Naturgeschichte(n)
Amazoniens, am Zusammenfluss des Rio Negro mit dem Amazonas gelegenen Stadt Manaus, sei es leichter, zehn Schmetterlinge verschiedener Arten zu finden als zehn Exemplare einer Art davon. Damit drückte er aus, was der große Naturforscher Alexander von Humboldt um die Wende vom 18 . zum 19 . Jahrhundert in seiner Begeisterung über die südamerikanischen Tropen nicht erkannt hatte, nämlich dass die meisten Arten selten bis sehr selten sind.
Die Seltenheit ist auch das grundlegende Problem für die Besucher, denen der tropische Regenwald für die Zeit ihres Aufenthalts so wenig zu bieten hat, ebenso wie für die an der Nutzung Interessierten, weil sie nicht glauben wollen, dass ausgerechnet dieses Waldstück so wichtig sein soll, wenn doch fast nichts an Tieren oder besonderen Pflanzen darin zu sehen ist, und für die Forschung, weil die Gründe für den ja tatsächlich vorhandenen Artenreichtum nicht ersichtlich sind. Da wächst und wuchert Wald, der das ganze Jahr über bestens mit Regen versorgt wird, bei Temperaturen, die kaum über 30 Grad Celsius ansteigen und höchst selten bis auf 20 Grad absinken. Ungünstigen Witterungsbedingungen, wie einem kalten Winter oder Trockenheit, ist er nicht ausgesetzt. Es gibt keinen Frost und keine Waldbrände. Trotzdem wimmelt es darin nicht vor Tieren, von Ameisen (und bei näherer Betrachtung auch von Termiten) abgesehen. Nur diese beiden Gruppen von Tieren sind so häufig, dass sie überall zu finden sind. Das Vogelleben entfaltet sich bei Weitem nicht so üppig wie in unseren Auwäldern oder Parks. Schon gar nicht in der großen Zahl der kleinen Singvögel. Darin übertreffen Auwälder, Waldfriedhöfe und große Parks pro Quadratkilometer den Regenwald Zentralamazoniens um das Drei- bis Fünffache.
Alexander von Humboldt hielt die Tropenwälder für die letzten großen Nutzlandreserven der Menschheit, weil sie so üppig gedeihen. Wo der Wald gut wächst, sollten auch Nutzpflanzen hohe Erträge bringen, so die naheliegende, aber falsche Vermutung. Dem ist nämlich nicht so. Die Menschen, die seit Jahrtausenden in den Tropenwäldern leben, wussten, dass dieser Typ von Wald nicht viel hergibt. In Südamerika war es lohnender, auf den kalten Hochflächen der Anden Kartoffeln und Mais anzubauen, auch wenn die Ernten der Höhenlage und der kalten Nächte wegen nur äußerst bescheiden blieben, als Amazonien zu besiedeln.
Die Inkas entwickelten ihre Hochkultur im Hochland, nicht im geradezu gemütlich warmen Tiefland. Vor 500 Jahren, vor der Ankunft der Spanier und Portugiesen, hatte Amazonien offenbar mit umgerechnet einem Menschen auf zwei Quadratkilometer eine dünnere Besiedelung als die Sahara. Die schlechten Ernteerträge und die kurze Nutzbarkeit der amazonischen Böden erklären, warum das so war und bis in die jüngste Vergangenheit auch geblieben ist.
Die Böden sind so arm an Pflanzennährstoffen und die Humusdecke ist so gering, dass im allergrößten Teil Amazoniens, das so groß ist wie ganz Europa, keine nachhaltige Landwirtschaft auf großen Flächen möglich ist. Die Tropenregen waschen in kürzester Zeit die vorhandenen Pflanzennährstoffe aus, ohne dass aus den Böden frische nachverwittern können. Aus guten Gründen blieben die von den Indios angelegten Pflanzungen klein, und alle paar Jahre wurde der Ort gewechselt. Der Wald eroberte schnell die auf die Gesamtfläche bezogen nur nadelkopfkleinen Rodungen zurück.
Ihre Siedlungen bauten die Indios hauptsächlich an den Flüssen, weil ihnen der Fischfang mehr Eiweiß als die jagdbaren Tiere des Waldes lieferte. Ihre Zahl blieb gering, weil sich die Stämme nur in sehr begrenztem Rahmen vermehren konnten. Die Natur liefert nicht genug Nährstoffe für viele Kinder. Sie entwickelten eine Vielzahl kleiner und kleinster Kulturen – und Sprachen.
Das ursprüngliche Leben der Indios gibt uns eine passende Vorstellung davon, wie es sich auch mit den Tieren verhält. Erinnern wir uns: Es kommen zwar sehr viele unterschiedliche Arten in Amazonien vor, aber fast alle sind selten bis sehr selten, das heißt, sie leben in kleinen Beständen auf bestimmten Flächen, die wie die Steinchen eines Mosaiks oder die Stücke eines Puzzles aneinandergrenzen. Ganz ähnlich wie die Stämme der Indios auch. Keiner gewann die Oberherrschaft über die Nachbarn, konnte sie unterwerfen und zu einem mächtigen Volk zusammenschließen, wie das im Hochland geschah. Wenn aber Mensch und Tier so viele Ähnlichkeiten in so grundlegend
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