Nayidenmond (German Edition)
auch mit kaum verhüllter Gewaltandrohung durchgesetzte Heiratspolitik ihres Vaters zu Thronerben der Königreiche geworden waren, die das Reich Kyarvit ausmachten, hatten mitgehen müssen. Barlev, Rouvens einziger echter Bruder, war ebenfalls dabei. Der Einzige, den er vermisste. Der Einzige, der mich vermissen würde, sollte ich heute verschwinden.
„Ich wusste, dass du hier bist“, erklang die Stimme einer Frau. Rouven stöhnte innerlich – seiner Stiefmutter in die Arme zu laufen war nie ein Vergnügen. Er verneigte sich stumm vor ihr und erwartete das Unausweichliche.
Königin Amanta, die Hauptfrau Rilons, hatte in seiner Abwesenheit wie üblich die Geschicke im Palast an sich gerissen. Sie traf keine Entscheidungen, die Politik, Sicherheit oder Führung des Reiches betrafen, dafür war Sinart, der neunte Königssohn zuständig, gemeinsam mit Beratern und Reichsverwesern. Doch alles, was im Palast geschah, von der Sitzordnung der Gäste in der großen Halle über die Anzahl der Wachen am Nebentor bis hin zur Zusammensetzung des Kräutertees, den man einer kranken Magd zugestehen wollte, musste von ihr abgesegnet werden. Auch sonst besaß sie viel Macht in diesen Dingen, aber nur, wenn Rilon abwesend war, spürte man ihre harte Hand und ihren unnachgiebigen Willen. Zum Glück waren diese Reisen seltener geworden, der König wurde alt, gab immer mehr Verantwortung an Arnulf ab. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte man von Senilität und Momenten wunderlicher Verwirrung. Nach einer über dreißigjährigen Regentschaft, in der Rilon aus einem Kontinent voller kriegerischer Völker und Kulturen mit unterschiedlichen Götterkulten ein einheitliches Reich geschaffen hatte, in dem alle dem Glauben an einen einzigen Himmelsherrscher folgten, war es wohl tatsächlich an der Zeit, dass er zur Ruhe kam. Für Rouven war es kaum vorstellbar, dass man kaum zehn Jahre vor seiner Geburt noch Menschenopfer im Tempel von Vagan dargebracht und sein Urgroßvater sich als Gott hatte verehren lassen.
„Du wälzt dich also noch immer in Selbstmitleid“, sagte Amanta leise und riss ihn damit endgültig aus seinen Gedanken. Weder ihre Stimme noch ihre Miene verriet, ob sie ihn verachtete. Gleichgültig musterte sie ihn von oben bis unten aus kalten, dunklen Augen. Sie war Rouven noch nie freundlich begegnet, schon als Kind hatte sie ihn offenkundig abgelehnt. Da sie aber alle ihre Stiefsöhne so behandelte, nahm er es als gegeben hin. Erst seit seiner Entführung zeigte sie gelegentlich Geduld und sorgte dafür, dass Arnulf und Tarrin ihn nicht zu hart angingen – gelegentlich.
„Ihr habt ein gutes Gedächtnis, ich glaubte nicht, dass außer mir sonst noch jemand weiß, welcher Tag heute ist“, erwiderte er so beherrscht wie möglich.
„Es ist meine Pflicht, alles zu wissen, was in diesem Palast geschieht.“ Amanta schritt auf ihn zu und zwang ihn mit einer Geste, sie anzublicken. Sie war eine große Frau, und obgleich sie das sechste Lebensjahrzehnt bereits überschritten hatte, ihr Haar grau und ihr Gesicht von Falten gezeichnet war, noch immer schön. Die Königin achtete auf ihren Körper, gönnte sich keine Ausschweifungen, war stets elegant gekleidet und zurechtgemacht.
„Es ist ein bedauerliches Geschehen, was dir damals widerfahren ist und ich kann verstehen, dass du wohl nie zum Kriegsherrn, geschweige denn zum Königsthron taugen wirst, sollte deinen Brüdern etwas zustoßen. Nun, da wird wohl glücklicherweise auch niemals Bedarf entstehen. Aber so langsam könntest du aufhören, wie ein Kleinkind über ein paar Messerschnittnarben am Rücken zu heulen und dich wirklich nützlich machen.“
Rouven wollte seine Wut über ihre Beleidigungen verbergen, doch im letzten Moment besann er sich. Wenn Amanta ihn demütigen wollte, hatte sie vermutlich einen Grund dafür. Besser, sie gewähren zu lassen, umso rascher war sie fertig mit ihm … Also ließ er sie den Zorn sehen, den sie von ihm erwartete, er konnte gut schauspielern. Dabei musste er an Airin denken, an das, was sie einmal zu ihm gesagt hatte: „Lass sie spotten, gib ihnen, was sie haben wollen. Es ist ein kleiner Preis für den Frieden.“ Er lächelte innerlich, als er ihre Stimme nachhallen hörte, wehrte sich nicht gegen die Tränen, die ihm in die Augen stiegen. Airin war die Einzige gewesen, die gewusst hatte, was wirklich mit ihm geschehen war. Manchmal wollte er es allen erzählen, immer dann, wenn sie ihm vorhielten, dass er seine Entführung
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