Nayidenmond (German Edition)
innerlich: Er vermisste die Oshanta nicht. Im Gegenteil, es fühlte sich gut an zu wissen, dass er nicht mehr zu ihnen gehörte. Und er wusste, welche Aufgabe er nun übernehmen würde.
„Auf bald!“, flüsterte er und verschmolz mit der Dunkelheit. „Sei gewiss, ich werde über dich wachen, Tag und Nacht …“
6.
Sechs Jahre später …
„ Zeit ist die Illusion, mit der wir Sterblichen uns blenden. Es tut gut zu glauben, alles würde sich verändern, wenn die Wahrheit lautet: Auch, wenn alles stets in Bewegung ist, es bleibt immer gleich und seiner innersten Natur treu.“
Aus: „Weissagungen des Ebano“
Iyen glitt durch die stillen Gänge und Flure des Palastes, verschmolzen mit dem Schatten. Selbst ein aufmerksamer Beobachter hätte sich schwergetan, ihn zu entdecken. Iyen ging seit Jahren in diesem Palast ein und aus, und noch niemals war er dabei erwischt worden. Sein Ziel war die Schlafkammer des jüngsten Prinzen von Kyarvit, der sich im Augenblick wahrscheinlich in der großen Halle befand und gemeinsam mit seiner Familie und verschiedenen Gästen zum Abend speiste. Der König mochte mit einigen seiner Söhne – den Ältesten und Ranghöchsten unter ihnen – zu wichtigen diplomatischen Verhandlungen an die Südgrenze des Reiches aufgebrochen sein, trotzdem riss der beständige Strom von Bittstellern, Händlern, Schauleuten aus dem ganzen Land sowie aller möglichen Adligen und Reichen mit allen nur denkbaren Anliegen niemals ab.
Rouvens Bedeutung bei der Verwaltung und Führung dieses riesigen Königreiches war geringfügig, doch auch für ihn fand sich mehr als genug Arbeit. Er mochte jederzeit ersetzbar sein, aber das traf letztendlich auf jeden zu.
Iyen wusste, dass Rouvens Gemächer nur nachts bewacht wurden, ein Umstand, den er für sich nutzte. Das Schloss der Tür hielt ihn kaum einen Herzschlag lang auf, dann hatte er es lautlos geöffnet und war hineingeschlüpft. Ein großer schwarzer Hund mit struppigem Fell hob den Kopf und betrachtete den Neuankömmling, winselte freudig, als Iyen ihn hinter den Ohren kraulte – und schlief dann einfach weiter. Er schlief seit einigen Monaten fast ständig, wahrscheinlich war er krank.
Iyen kannte das Tier, seit es als Welpe in Rouvens Obhut gekommen war. Ein Geschenk von Barlev, kurz nach Rouvens Heimkehr vor sechs Jahren. Der hatte damit schnell erreicht, was seine Absicht gewesen war: Rouven hatte alle Hände voll mit dem lebhaften Hund zu tun gehabt und war so gar nicht erst dazu gekommen, in allzu trüben Gedanken zu versinken. Nun, bald würde er sich von dem Tier verabschieden müssen, hoffentlich warf ihn das nicht wieder zurück in den Abgrund von Kummer und Leid … Iyen wollte nicht umsonst all die Jahre gewacht haben!
Er hatte Rouven bewusst nichts von dem Ehrverständnis der Oshanta in Hinblick auf Lebensrettung erzählt. Der Junge hatte so viel durchgemacht, warum sollte er ihn noch mehr verstören? Tatsache war, dass ein Leben, das ein Oshanta rettete, fortan ihm gehörte, bis die Schuld beglichen werden konnte. Rouven war sein Eigentum, er könnte ihn versklaven, für seine Lust missbrauchen, ihn sogar verkaufen oder töten, ganz nach Belieben – zumindest nach Ansicht der Bruderschaft. Aus diesem Grund zogen Oshanta es vor zu sterben statt sich von irgendjemandem das Leben retten zu lassen. Rouven sollte nichts davon wissen, denn Iyen wollte ihn gar nicht für sich selbst beanspruchen. Es gab jedoch seinem Leben als Ausgestoßener, als Vogelfreier für jeden Oshanta, der ihn kannte einen Sinn, dass er über diesen Mann wachen konnte. Niemals kam er ihm dabei wirklich nah, er vermied alles, was Lust oder andere Gefühle wecken konnte.
Sein Ziel war es gewesen herauszufinden, wer damals die Entführung befohlen hatte und warum, vor allem aber, ob es sich wiederholen könnte. Eine mühsame Suche auf den Spuren einer uralten Prophezeiung …
Die Verliebtheit hatte er glücklicherweise rasch überwinden können. Rouven war für ihn als Mensch bedeutungslos, die Anziehung war rein körperlich gewesen – so musste es sein! Der Prinz war ein launischer, kindlich naiver Mensch geblieben, der sich nie einem Befehl unterwerfen konnte, ohne ihn zu diskutieren. Er spielte sich nicht in den Vordergrund, trotzdem fiel er durch sein Verhalten immer wieder auf und das selten auf positive Weise.
So vor drei Tagen, als Arnulf, der Thronfolger, ihm verboten hatte nach Osor zu reisen, jener unbedeutenden Provinz, deren Verwaltung
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