Nayidenmond (German Edition)
Ebano sich geirrt hat?“, bohrte Iyen unerschüttert weiter nach.
„Auslegungsfehler! Ebano hat uns ein hoch kompliziertes Instrumentarium hinterlassen, wir Narren, die nicht so erleuchtet sind wie er, müssen versuchen, damit richtig umzugehen.“
„Ich wusste, dass du an Ebano glaubst und wie sehr du dich von seinen Weissagungen beeinflussen lässt, aber dass du solchem Irrsinn verfallen könntest, das ist …“, flüsterte Rouven, heiser vor Wut.
„Amanta hat mir den Weg gezeigt. Sie war es, die mir den Mut und die Kraft gab, dich als Werkzeug zu sehen, nicht als mein Kind. Es war schwierig genug, weil du mit deiner scheinbar so menschenähnlichen, fröhlichen Maske die Leute für dich eingenommen hast. Es hat Jahre gedauert, bis auch deine Geschwister erkannt haben, dass hinter der Fassade nichts steckt. Sie haben es mit Schwächen und Albernheiten der Jugend verwechselt, diese Narren! Selbst nachdem man dein Fleisch in Stücke gerissen hatte, konntest du nicht aufhören, so zu tun, als wärest du tatsächlich ein Mensch!“ Wahnsinn flackerte in Rilons Augen, als er erneut nach ihm griff. „Schluss damit! Du bist mein! Weißt du, wie viel Gold ich der Bruderschaft in den Rachen werfen musste? Auf gut Glück hin, nach den Berechnungen des Meisters der Schriften, der mir nicht garantieren konnte, dass die Zeit der Sicht genau dann beginnen würde, die ich den Oshanta genannt hatte! Allein, dass er beide Male recht hatte, beweist doch, dass Ebano wahrhaftig die Zukunft kannte!“
„Er kannte den Lauf der Gestirne, was nicht wenig ist, mit Blicken in zukünftiges Schicksal hatte das nichts zu tun!“, zischte Iyen. „Ich habe einen Sternenforscher dazu gebracht zu berechnen, wann sich exakt die gleiche Konstellation wiederholen würde wie an diesem Tag vor sechs Jahren. Er war ein wenig überrascht, dass diese grünen Nebel schon so bald wiederkehren könnten, aber er war sich seiner Sache sicher genug, dass ich ihm vertraut habe; und auch, wenn er sich um wenige Tage geirrt hat, war das Vertrauen berechtigt. Wie sonst hätte ich wissen können, wann ich Rouven in Sicherheit zu bringen habe? Es war keine mystische Prophezeiung, es war Rechenkunst und Wissen!“
Rilons Lächeln bewies, dass er Iyens Worte nicht an sich heranlassen wollte. Rouven wollte fort von hier. Fort von diesem Mann, der nicht länger sein Vater war. Es nie gewesen war …
„Kannst du dir vorstellen, wie bang ich gewartet habe, ob der Nayidenmond tatsächlich wiederkehrt?“, jammerte der Alte. „Wie wütend ich war, als das Schicksal sich gegen mich stellte und die Jagd zu früh beendete, sodass du beim ersten Mal aus dem Palast geholt werden musstest – es hat unweigerlich den Verdacht auf unsere Familie gelenkt statt auf unsere Gäste. Ich musste den Oshanta sagen, dass sie dich auch töten dürfen, falls nötig, sonst hätten die vielleicht herausgefunden, wer du bist und dich selbst benutzt! Und als ich hörte, dass Arnulf dir verboten hat, nach Osor zu reiten! Offenkundig hat Amanta es auch nicht geschafft, dich zum Ausreißen zu bewegen.“
„Was?“, stammelte Rouven verwirrt. „Aber es war doch mein eigener … was hat die Provinz …?“
„Osor liegt keinen halben Tagesritt von hier entfernt. Es wäre leicht gewesen, deinen Tod als Folge deines Leichtsinns zu tarnen“, grollte Iyen. Er war es gründlich satt, sich das Gestammel dieses Irrsinnigen anhören zu müssen. Rilon war ein großer, ein sehr großer Mann gewesen, dessen umsichtige, auf das Wohl aller ausgelegte Politik er immer bewundert hatte. Nun allerdings war seine Zeit abgelaufen und es war jämmerlich, was aus ihm geworden war. Als er sich wieder regte, um nach Rouven zu greifen, stieß er ihm hart vor die Brust.
Der alte König stolperte zwei Schritte nach hinten, stürzte und blieb liegen, weinend wie ein Kind.
„Begreift ihr denn nicht?“, greinte er. „Ich muss wissen, ob mein Lebenswerk Bestand hat! So lange habe ich darum gekämpft, ein Königreich zu erschaffen, das Wohlstand und Frieden für einen ganzen Kontinent zu bieten hat. Wenn sich meine Söhne untereinander zerstreiten, sobald ich tot bin, was habe ich dann gewonnen? Wenn sie Krieg führen, um ein wenig mehr zu besitzen, war doch alles umsonst! Einen zu opfern, der von Gott genau dafür gesandt wurde, damit alle anderen in Frieden leben, ist, was ein Herrscher tun muss! Arnulf ist ein guter Sohn, ein starker Mann, aber hat er auch die Kraft, ein Großkönigreich zu halten?
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