Nebelflut (German Edition)
Welt, als frage sie sich, was da draußen noch alles auf sie warten mochte. Sie trug ein rotes Oberteil, das am Hals von einer weißen Schleife zusammengehalten wurde, und einen gleichfarbigen Haarreifen. Sie erinnerte Brady ein bisschen an seine eigene Schwester Caitlín – mit dem Unterschied, dass Caitlín weniger keltisch aussah als die kleine Namara. Ihr Haar war rot-braun und sie besaß die warme Ausstrahlung einer fröhlichen Inselbewohnerin und nicht den blassen, kühlen Teint, der Amy Namara eigen gewesen war. Brady riss sich von ihrem Anblick los und wandte sich Sean zu. »Namara hat geschwiegen wie ein Grab. Die Feindseligkeit dringt dem Kerl aus allen Poren. Irgendwas verbirgt der doch.« Brady ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen.
»Mir kam er als Fünfzehnjähriger schon seltsam vor«, erklärte Sean. Er deutete auf ein Familienfoto der Namaras, das alle vier in einem Garten zeigte. Sie sahen glücklich aus.
Brady beäugte Patrick Namara genauer. Er hatte eine Hand auf der Schulter seiner Schwester liegen und den Blick leicht auf sie herunter gesenkt. »Sieht ganz normal aus.«
»Der Junge hat seine Schwester laut Angaben der Eltern geliebt und als ich ihn damals verhört habe, war er ernsthaft am Boden zerstört. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, dass er etwas zu verheimlichen hat.«
»Hmm.« Brady dachte nach. Patrick Namara entsprach nicht dem klassischen Bild eines Mörders. Andererseits: Wer konnte schon sagen, wann man wie ein Mörder aussah? Die Zeiten, in denen Wissenschaftler Verbrecher anhand ihrer Kopfform zu identifizieren versuchten, waren längst vorbei und Brady hatte gelernt, dass man Menschen ihre kriminelle Energie in der Regel nicht ansah. »Was ist das?«
Sean hielt inne, dann reichte er ihm eines der Fotos herüber. Es zeigte schlammigen Boden mit etwas Hellem darin.
»Was ist das?«, wiederholte Brady seine Frage.
»Das haben uns die Kollegen gerade zukommen lassen. Ein Milchgebiss.«
»Aus dem Grab?«, entfuhr es Brady.
»Ja.«
»Von Amy Namara?«
»Das wird sich zeigen. Aber vom Alter her passt es zu ihr. Bis auf zwei Backenzähne sind alle Milchzähne gefunden worden.« Sean nahm das Bild vom Tisch und hängte es ebenfalls an die Wand. Daneben klebte er eine weitere Aufnahme, die die Zähne gereinigt in einer Petrischale zeigte. »Wir haben Glück, dass das Gebiss noch so gut erhalten war.«
»Wie meinst du das?«
Sean seufzte, dann setzte er sich auf die Tischkante. »Wie es aussieht, war da ein Profi am Werk.«
Brady runzelte die Stirn und versuchte nachzuvollziehen, worauf Sean hinaus wollte. Automatisch wanderte sein Blick wieder zu Amy Namaras Foto. Sie fesselte ihn. In ihren Augen stand eine Klugheit, die so gar nicht zu ihrem Alter passen wollte. Vielleicht hatte die Kleine ihr Schicksal gespürt. Vielleicht hatten Kinder eine Art Vorahnung, immer dann, wenn etwas Schreckliches nahte.
»Das Opfer ist vermutlich zuerst an der Luft verwest. Da geht der Prozess viel schneller als im Boden. Danach wurden die Knochen samt Zähnen im sauren Torfboden vergraben. Unser Glück ist es, dass wir das Grab rechtzeitig gefunden haben. In einigen Monaten wäre von dem Körper gar nichts mehr übrig gewesen.«
Brady war unfähig, etwas zu sagen. Das Bild von Amy Namara an der Pinnwand verschwamm und mischte sich mit dem verwesten Gesicht der Leiche aus dem Schuppen. Kaum zu glauben, dass jemand dabei zugesehen haben sollte, wie die Kleine Stück für Stück verfaulte und zerfiel. Er konnte nicht verstehen, wie jemand so skrupellos sein konnte, ein Kind zu entführen, in seinem Keller zu foltern und anschließend zu töten. Doch damit nicht genug. Ihr Täter hatte selbst nach dieser grausamen Tat noch einen kühlen Kopf bewahrt und sich der Leiche so entledigt, dass die Polizei sie beinahe nicht mehr hätte finden können. Andererseits hatte er ein Kreuz für sie aufgestellt, was die Tat regelrecht ironisch anmuten ließ …
Brady schüttelte den Gedanken ab und zwang sich, realistisch zu denken, beherrscht, wie ein Bulle sein sollte. Sie hatten keinerlei Beweise dafür, dass die Zähne und das Blut zu Amy Namara gehörten. Sie hatten lediglich ein Bündel mit ihrer Kleidung aus einem Fluss gefischt. Die Farm musste in keinem Zusammenhang mit ihren Sachen stehen. Sie würden erst Gewissheit haben, wenn alle Untersuchungen abgeschlossen waren.
»Mach für heute Feierabend.«
Brady registrierte erst jetzt, dass er noch immer im Büro war. »Gibt es nichts
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