Nebelflut (German Edition)
und dieser wunderte sich noch nicht einmal. Er war vermutlich nicht der erste Schaulustige, der den Leichenfundort begutachten wollte.
Er lenkte den Wagen die schmale Straße hoch und konnte zusehen, wie die Besiedlungsdichte abnahm. Die wenigen Häuser, die er passierte, wurden von Hecken verdeckt, hier oben wollte man offenbar seine Ruhe haben. Die Farm war von der Straße aus nicht einsehbar, er musste den Wagen erst durch einen engen Seitenpfad steuern. Dann plötzlich, tauchte hinter einer Biegung das Haupthaus vor ihm auf, einsam und düster wie aus einer Geschichte von Edgar Allan Poe. Patrick bremste ab, ließ den Wagen ausrollen, kam schließlich zum Stehen. Rechts neben sich, halb von Gestrüpp verdeckt, erkannte er den River Camac, links lagen die Farmgebäude mit ihren baufälligen Fassaden, geflickten, tiefhängenden Dächern und toten Fenstern, hinter denen die Schwärze Augen zu haben schien. Das Haupthaus, das ganze Anwesen strahlte eine Feindseligkeit aus, die Patrick noch nie an etwas Unbelebtem beobachtet hatte. Je länger er das Haus anblickte, desto unwohler wurde ihm, desto mehr krampfte sich seine Brust zusammen.
Amy. Sie war hier gewesen, hier gestorben, hier begraben worden. Eine halbe Stunde von zu Hause entfernt und weder seine Mutter noch sein Vater noch er hatten sie retten können. Patrick spürte, wie Tränen seine Augen füllten. Was suchte er überhaupt hier? Es gab nichts mehr, was er für seine Schwester tun konnte. Es gab keine Möglichkeit, die Schuld, die er vor neunzehn Jahren auf sich geladen hatte, auszumerzen. Es war in jeder Hinsicht zu spät. Wut stieg in ihm auf. Wut auf den Mann und die Frau, auf jeden, der sich an ihr vergriffen hatte. Er war so wütend, dass ihm schwindelig wurde. Er schloss die Augen und legte den Kopf aufs Lenkrad, und in der Dunkelheit sah er Amys Gesicht, den zerschmetterten Mann, eine Frau mit zerfetztem Kopf.
Er wusste, wenn er je wieder mit sich ins Reine kommen wollte, dann musste er herausfinden, was es mit alldem auf sich hatte. Doch er wusste auch, dass er heute keinen Fuß auf den Grund dieser Farm setzen würde. Er konnte nicht, es war, als ob ihn irgendetwas in ihm davor warnte. Patrick nahm eine weitere Line Koks in der Hoffnung, dass der Stoff seine Courage wachsen lasse, doch alles was wuchs war die Überzeugung, dass er, sollte er jetzt aussteigen und diesen Ort betreten, den Verstand verlieren würde. Er startete den Wagen, wendete ihn und fuhr mit durchdrehenden Reifen davon.
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Pünktlich um fünf klingelte es an Bradys Tür. Er zog sein Hemd zurecht und warf einen prüfenden Blick ins Wohnzimmer, in dem er oberflächlich Ordnung gemacht hatte. Eigentlich hatte er nur die Essensverpackungen verschwinden lassen und die roten Kissen, die seine Schwester vor einer Weile auf seinem Sofa drapiert hatte, aufgeschüttelt. Caitlín hatte auf ein bisschen mehr Wohnlichkeit bestanden, doch er bezweifelte, dass die zwei roten Farbtupfer seine Junggesellenbude zu einem Kandidaten für House and Home machten. Egal, für heute Abend musste es reichen.
Unwillkürlich fragte er sich, ob Chloe wegen ihm kam oder ob sie nur scharf auf neue Ergebnisse war. Er öffnete und sie begrüßte ihn verhalten mit einem Kuss auf die Wange. Es fühlte sich seltsam an, seit sie sich auf der Half Penny Bridge näher gekommen waren. Brady musste unbedingt herausfinden, woran er bei ihr war. Ein Abendessen war die perfekte Gelegenheit dafür.
Brady ging zurück in die Küche und Chloe folgte ihm.
»Das riecht aber lecker.« Sie schlang die Arme um Brady und drückte ihren warmen Körper gegen seinen.
»Findest du?« Brady versah den Topf mit einem Deckel.
Sie nickte und warf einen Blick hinter ihn auf die kochenden Speisen.
Brady verstellte ihr den Weg. »Das wird eine Überraschung.«
»Es riecht nach paniertem Hirn mit schwarzer Butter.«
»Und das nennst du lecker?« Brady wusch sich die Hände und sah zu, wie Chloe in eine der Pfannen schaute.
»Sind das Salbeischnitzel?«
»Nein.« Brady drängte sie vom Herd weg, was ihr ein kindliches Kichern entlockte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er beim Einkaufen etwas Entscheidendes vergessen hatte.
»Ich kriege es schon noch raus. Ich kriege alles raus.«
»Vor allem gehst du jetzt erstmal raus«, feixte Brady und begleitete Chloe aus der Küche.
»Gibt es etwas Neues?« Chloe strich ihm über die Schultern. »Gib mir etwas, womit ich arbeiten kann und dann …« Sie beugte sich zu ihm vor, als wolle
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