Nebelflut (German Edition)
von Grace zu Cal, der offenbar versuchte, unschuldig auszusehen. »Du bist das Letzte! Ihr beide!«
Patrick warf Grace die Karte entgegen, sie traf sie am Schlüsselbein und segelte dann zu Boden. Dann drehte er sich weg.
»Patrick!« Er ignorierte sie und ging auf sein Auto zu, doch Grace folgte ihm und packte ihn an der Schulter. »Jetzt hör mir doch zu! Du musst mir glauben, dass–«
Patrick fuhr zu ihr herum und holte aus. Sie ließ ihn los und wich erschrocken zurück, dann starrte sie auf seine erhobene Hand. Im letzten Moment konnte er sich bremsen, aber das bedeutete nichts. Allein die Tatsache, dass er kurz davor gewesen war, sie zu schlagen, änderte alles. Zuallererst den Ausdruck in ihren Augen. Sie schluckte, dann wandte sie sich ab und lief auf die Tür des Kindergartens zu.
-43-
Nach einer Ewigkeit kam Brady aus dem Verhörraum. Sean, den er per SMS zu Hilfe gerufen hatte, lehnte an der Wand und kaute auf einem Sandwich herum, das selbst gemacht aussah.
»Und? Tanzen dir die Simmon-Jungs auf der Nase herum?«
»Der eine ist ein Freak und der andere ein Autist.«
»Vielleicht können sie dich einfach nicht leiden.«
Brady konnte Seans stumpfe Amüsiertheit nicht verstehen. »Bitte, geh rein und ärger dich selbst mit ihnen herum.«
Sean seufzte und steckte sich den Rest des Sandwichs in den Mund. Dann blickte er auf die Uhr. »Ich sage dir, was wir tun. Wir lassen jetzt DNA-Proben von den beiden nehmen und sie dann ein bisschen schmoren. Eine Nacht hinter Gittern kann Wunder bewirken.«
»Und dann?«
»Dann rede ich mit ihnen.«
»Und wenn sie dir auch nichts verraten? Wir haben kein ausreichendes Verdachtsmoment und DNA-Ergebnisse bekommen wir so schnell auch nicht. Ich sehe schon, wie sie uns durch die Finger gleiten!«
»Beruhig dich, McCarthy. Schritt für Schritt denken, das ist die Hauptsache.« Sean klopfte ihm auf die Schulter und Brady hätte seinem Partner am liebsten eine reingehauen. Doch Sean hatte recht: In einem so verzwickten Fall konnte jeder voreilige Gedanke ein Fehler sein.
-44-
Grace hatte ihn keines Blickes gewürdigt, als sie gestern Abend Tammie und eine Reisetasche voller Kleider abgeholt hatte. Als sei er gar nicht da. Als sei er gestorben. Patrick war ihr aus dem Weg gegangen, weil er sich immer noch nicht sicher war, dass er sich beherrschen konnte.
Gegen neun Uhr morgens rief Felicia an und fragte ihn, weshalb er nicht in der Praxis war.
»Verdammt, ich …« Patrick suchte nach einer Ausrede. Er fühlte sich schrecklich verkatert, und das obwohl er keinen einzigen Tropfen Alkohol angerührt hatte. Kokain. Er brauchte dringend Nachschub. Er hätte gleich gestern Abend zu Jerzy fahren sollen, doch er war wie paralysiert gewesen. Hatte im Arbeitszimmer gesessen und zugehört, wie Grace durchs Haus geeilt war, hektisch packend, während sie die weinende Tammie beruhigte.
»… gehen Sie nach Hause, Felicia. Lassen Sie das Schild an der Tür. Wir öffnen heute nicht.«
»Aber ich habe schon das halbe Wartezimmer voller Patienten.«
Patrick schloss die Augen. »Dann hätten Sie sie nicht reinlassen sollen.«
»Aber Sie hatten gesagt, Sie würden sich abends noch mal melden. Als kein Anruf kam, dachte ich, die Angelegenheit hätte sich erledigt.«
»Hat sie aber nicht. Verweisen Sie die Patienten auf Doktor Murdock, der ist doch nur ein paar Straßen weiter.«
»Okay, Doktor. Wie Sie– «
Patrick legte auf und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Die Bettwäsche war nass geschwitzt und ihm brummte der Schädel. Es fiel ihm schwer, auch nur den Hauch eines klaren Gedankens zu fassen. Eines allerdings war ihm klar, auch ohne dass er darüber nachdenken musste.
Er drehte den Kopf und betrachtete das Foto von ihnen dreien, das Grace auf ihrem Nachttisch hatte stehen lassen. Tammie war damals zwei gewesen, pausbäckig und fröhlich. Erst jetzt fiel ihm auf, wie ernst ihre Augen in den letzten Tagen geworden waren, und das schlechte Gewissen machte sich als Stechen in seinen Eingeweiden bemerkbar. Er hätte nicht zulassen dürfen, dass alles derart aus dem Ruder lief.
Patrick setzte sich auf und bemerkte, dass er noch immer seine Kleidung von gestern trug. Nachdem Grace die Tür hinter sich und Tammie geschlossen hatte, war ihm der Abend in schleierhafter Erinnerung. Er hatte Tabletten genommen, so musste es sein, und sich dann in voller Montur ins Bett gelegt. Er fuhr sich mit den Händen durchs verschwitzte Gesicht. Er musste etwas tun und zwar jetzt
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