Nebelfront - Hinterm Deich Krimi
vor dem
Alter.«
Die Frau zog die Beine über den abgewetzten Teppich, der an einigen
Stellen durchgetreten war. Sie schien nicht mehr genügend Kraft zu haben, die
Beine anzuheben. Als sie im Wohnzimmer auf einem mit einem Handtuch bedeckten
Stuhl Platz nahm, hatte Christoph Gelegenheit, sie zu betrachten.
Sie war hager. Es wirkte so, als bestünde sie nur aus Haut und
Knochen. Unter der mit Altersflecken übersäten Haut stachen die Knochen hervor.
Die Adern schimmerten dazwischen durch. In das Gesicht hatten sich die Falten
eines langen Lebens gegraben. Am linken Lid hing eine lange Pinselwarze, eine Verruca filiformis , wie Anna Christoph erklärt hatte. An
mehreren anderen Stellen hatten sich Flecken gebildet, möglicherweise war auch
ein Basaliom auf der Wange darunter, ein Hautkrebs, der oft ältere Menschen
befiel. Josefa Wendelstein hatte eine brüchige Stimme. Sie fingerte mit der
Hand hinter dem Ohr und schrak zusammen, als es laut zu fiepen begann. Dann
hatte sie ihr Hörgerät richtig eingestellt.
»Sie versorgen Ihren Haushalt noch ganz allein?«, fragte Christoph.
»Warum interessiert es Sie?« Die alte Frau war misstrauisch. »Ich
habe kein Geld im Haus. Und auch keinen Schmuck. Danach zu suchen, ist
sinnlos.«
»Es ist gut, wenn Sie aufmerksam sind«, sagte Christoph. »Aber wir
sind von der Polizei.«
»Polizei. Gaswerk. Strom. Es sind immer wieder neue Tricks, die sich
dreiste Gangster einfallen lassen.«
»Wir ziehen Erkundigungen über zwei Menschen ein, die in jüngster
Zeit verstorben sind«, sagte Christoph. »Kennen Sie Adolph Schierling und
Wolfgang Hohenhausen?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Hohenhausen hat sich das Leben genommen, und Schierling ist
ermordet worden.«
»Darum bin ich vorsichtig. Die Leute haben es auf alte Menschen
abgesehen. Die können sich nicht mehr wehren.«
»Bei Adolph Schierling liegt kein Raubmord vor. Das Motiv ist ein
anderes. Deshalb sind wir hier.«
»Kein Raubmord? Ja – was denn?«
»Wir vermuten, dass es mit Schierlings Zeit im Kinderheim St. Josef
zusammenhängt.«
»St. Josef«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Das ist schon …«
Ihr Blick ging ins Leere, als würde sie dort ihre Erinnerungen wiederfinden.
»Das ist ja schon …«, erneut überlegte sie. »Sehr lange her«, sagte sie
schließlich.
»Über vierzig Jahre«, half Christoph nach.
»So lange schon? Ja. Der Schierling war dort als Betreuer.«
»Und Sie als Lehrerin?«
Sie nickte. Dann schob sie das Gebiss mit der Zunge vor, dass die
Oberlippe vorgewölbt wurde, und ließ es wieder auf den Gaumen rutschen.
»Wie lange waren Sie in Tönning tätig?«
»Lange.«
»Von wann bis wann?«
Sie überlegte angestrengt. »Das weiß ich nicht mehr.«
»Nachdem das St.-Josef-Heim geschlossen wurde, haben Sie wo als
Lehrerin gearbeitet?«
»In … in … Wie hieß das noch gleich?« Sie schlug sich mit
der geballten Faust leicht auf das Knie. »Wissen Sie, wie schlimm das ist, wenn
Sie irgendetwas in einer Schublade des Gehirns haben, die aber klemmt, und Sie
nicht an die Erinnerung herankommen?«
»Aber an Schierling erinnern Sie sich.«
»Das war ein Hundsfott. Warum der Erzieher geworden ist, habe ich
nie verstanden. Eigentlich war er Lehrer. Aber aus Liebe zu den Kindern ist er
ins Heim gegangen. Dort konnte er intensiver mit den Kindern arbeiten.«
Die beiden Beamten wechselten einen raschen Blick.
»Sie sagten eben, Schierling wäre ›aus Liebe zu den Kindern‹
Heimerzieher geworden?«
»Habe ich das gesagt?« Sie kicherte. »Schlimm. Schlimm. Jetzt
vergesse ich nicht nur Dinge aus der Vergangenheit, sondern auch das
Kurzzeitgedächtnis versagt.«
»Frau Wendelstein«, sprach Große Jäger sie an. »Ich glaube, Sie
spielen uns etwas vor. Sie wissen genau, worüber Sie reden.«
»So? Was wissen Sie von alten Menschen? Niemand kümmert sich um
uns.«
»Das ist ungerecht«, stimmte Christoph ihr zu. »Besonders, nachdem
Sie Ihr ganzes Berufsleben der Erziehung junger Menschen gewidmet haben.«
Es blitzte kurz in ihren trüben Augen auf. »Undank ist der Welten
Lohn. Ich habe alles für die Kinder gegeben. Hart, aber gerecht.«
»War Schierling auch so?«
»Der Schierling? I wo. Der war ein Weichei. Das waren ja nur Jungen
in St. Josef. Die mussten etwas abkönnen. Da war es falsch, sie bei jeder
Kleinigkeit in den Arm zu nehmen. Wenn die sich die Knie aufgeschürft haben,
sollten sie selbst sehen, wie sie damit zurechtkamen. Das hätte ein
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