Nebelgrab (German Edition)
einfach übersprungen und war direkt über die Leiche seines Interviewpartners gegangen, weil er intuitiv die Sensation gespürt hatte. Es war nicht nur ein Buch, es war eine Offenbarung. Das wurde ihm beim Lesen schnell klar. Professor Wiedener fiel mit seiner Geschichte nicht mit der Tür ins Haus. Er hatte den Text sorgsam aufgebaut und den Leser unter Spannung gesetzt. Aber gerade als Hubert im Manuskript den ersten rudimentären Text auf dem Pergament übersetzen wollte, fehlten Adrian die folgenden Seiten. Es war nur der Anfang zu lesen, doch die Übersetzung fehlte vollständig: »Gratiam habebimus in aeternitate damusque quo mano fido Irmingardis piae.«
Hektisch blätterte Adrian weiter. Ihm wurde heiß und kalt bei der Erkenntnis, dass das Manuskript nicht nur unvollständig war, sondern nur aus den ersten Seiten bestand. Alle nachfolgenden Seiten waren Makulatur! Sinnloses Geschreibsel! Füllmaterial!
Was hatte Wiedener damit bezweckt? Hatte er am Ende geahnt, dass er ungebetenen Besuch bekommen würde? War das Manuskript wirklich so brisant, dass er damit Katz und Maus spielen konnte? Wo waren die vielen Seiten abgeblieben, die diese Geschichte aufdecken würden?
Adrian raufte sich die Haare so lange, bis seine sonst nach hinten gekämmte Frisur in Strähnen über die Brillengläser fiel.
»Verflucht!«, stöhnte er. »Meine Story, gib mir meine Story!« Und er kramte die Kopien aus dem Stadtarchiv hervor, um sie zum wiederholten Male zu studieren.
(1955)
»… wurde der bekannte Universitätsprofessor Ferdinand Hausermann tot in seinem Haus aufgefunden. Seinem Umfeld nach hatte er keine Feinde gehabt; man vermutet, er ist einem Einbrecher zum Opfer gefallen. In Verdacht geraten war zunächst ein junger Mann, wohnhaft in Mönchengladbach, der zuletzt mit dem Professor gesehen worden war. Ein heftiger Streit zwischen diesen Männern hatte die Aufmerksamkeit einiger Nachbarn auf sich gezogen …«
»… wurde der Verdacht gegen Hubert Becker aus Süchteln entkräftet. Das Alibi des jungen Mannes wurde inzwischen bestätigt …«
»… das schreckliche Verbrechen, dem der Geschichtsprofessor Hausermann zum Opfer gefallen ist. Hausermann war Spezialist für das Mittelalter und tat sich besonders auf dem Gebiet kirchlicher Insignien hervor. Seine exzellenten Kenntnisse werden nicht nur seine Studenten vermissen, sondern auch die Museen hierzulande sowie im europäischen Ausland. In Brüssel, Paris und London, um nur einige der Metropolen zu nennen, kennt man den Namen des Düsseldorfer Professors in besagten Kreisen …«
Dann besah sich Adrian noch einmal den mit Backfischöl getränkten Abschnitt seines Zeitungspapiers. Es war eine Düsseldorfer Wochenzeitung gewesen, die darüber berichtet hatte. Er musste Frank bitten, den Artikel ausfindig zu machen.
Hubert Becker war also des Mordes verdächtig gewesen. Ein Geschichtsprofessor das Opfer … Adrian überlegte hektisch. Das konnte doch kein Zufall sein, dass Hausermann und Wiedener die gleiche Profession gehabt hatten!
Er schaltete seinen Computer an, startete das Internet und gab die Namen der Mordopfer in verschiedene Suchmaschinen ein … Treffer! Hausermann ließ sich als kleine Notiz eines wissenschaftlichen Berichtes von Anfang der 50er Jahre finden, und von Wiedener waren sogar drei verschiedene Arbeiten ins Internet gestellt worden. Darüber hinaus hatten beide Professoren zeitweise an der Universität zu Köln gelehrt. Adrian kratzte sich bedächtig seine Bartstoppeln.
»Vielleicht hat Wiedener als Student bei Hausermann gesessen – das wäre doch ein brisanter Zusammenhang«, murmelte er vor sich hin.
Er rekapitulierte die bisher bekannten Fakten. Dabei ging er laut sprechend in seiner Wohnung auf und ab.
»Vierziger Jahre, Krieg, Freundeskreis kommt an Tasche mit Antiquitäten, vielleicht gefälscht, möglicherweise echt, Irmgardis wird erwähnt, wessen Schädel ist in der Kiste, was tun die Freunde mit den Fundstücken, haben sie sich mit dem vermeintlichen Bruder getroffen, war der Soldat ein Dieb, was ist aus den Stücken geworden? Was haben die Düsseldorfer Antiquitätenhändler damit zu tun? Fragen über Fragen – Mitte der 50er dann der Tod dieses Professors …«
Er hielt kurz inne und überprüfte die Daten der Zeitungsartikel: vom 02.05. und 05.05.1955. Auf einer Kopie war noch der Anfang eines Berichtes über das Fällen der 1000jährigen Linde vor der Irmgardiskapelle im April 1955 zu sehen, inklusive eines Fotos,
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