Nebelsturm
Leute hierherziehen und auch eine Arbeit finden. Und wirst du auch in Marnäs wohnen?«
»Ich habe eine Einzimmerwohnung in einem der Häuser am Marktplatz gemietet. Von dort kann man die Küste hinunter sehen … Ich kann fast Großvaters Häuschen sehen.«
»Das Anwesen gehört mittlerweile einer anderen Familie«, erzählte ihr Gerlof. »Aber wir können trotzdem einmal hinfahrenund es uns ansehen. Und natürlich auch mein Sommerhaus in Stenvik, wenn du magst.«
Tilda verließ das Altersheim kurz nach halb fünf, das Tonbandgerät im Rucksack verstaut.
Sie hatte sich gerade ihre Jacke zugeknöpft und befand sich auf der Straße, die in das kleine Zentrum von Marnäs führte, als ein junger Kerl auf einem hellblauen Moped an ihr vorbei knat terte. Sie schüttelte den Kopf, um ihr Missfallen über zu schnelle Mopedfahrer auszudrücken, aber er würdigte sie keines Blickes. In weniger als zwanzig Sekunden war er nicht mehr zu sehen.
Es gab eine Zeit, in der Tilda fünfzehnjährige Jungs auf Mopeds ungefähr für das Aufregendste auf der Welt hielt. Mittlerweile waren sie für sie wie Mücken – klein und lästig.
Sie schob den Rucksack auf den Rücken und machte sich auf den Weg nach Marnäs. Ihr Plan war, zuerst kurz bei ihrem neuen Arbeitsplatz vorbeizuschauen, obwohl ihr erster Arbeitstag erst morgen war, und danach wollte sie zurück in ihre kleine Wohnung und weiter auspacken. Und Martin anrufen.
Das Knattern des Mopeds wurde wieder lauter, der Fahrer hatte offensichtlich bei der Kirche gewendet und war auf dem Rückweg in den Ort.
Dieses Mal musste er auf dem Bürgersteig an Tilda vorbei. Er verringerte zwar seine Geschwindigkeit, gab aber drohend Gas und wollte an ihr vorbeidüsen. Sie drehte sich um, sah ihm fest in die Augen und versperrte ihm den Weg. Er hielt an.
»Was ist los?«, übertönte der Junge das Knattern des Mopeds.
»Du darfst mit dem Moped nicht auf dem Bürgersteig fahren«, schrie Tilda zurück. »Das ist gegen die Straßenverkehrsordnung.«
»Klar«, entgegnete der Junge. »Aber hier kann man schneller fahren.«
»Du könntest jemanden umfahren.«
»Ja, sicher doch.« Er warf ihr einen gelangweilten Blick zu. »Und, wollen Sie jetzt die Polizei rufen?«
Tilda schüttelte den Kopf.
»Nein, das werde ich nicht, denn …«
»Es gibt hier keine Polizei mehr.« Der Junge gab Gas. »Die haben die Station vor zwei Jahren geschlossen. Auf Nordöland gibt es keine Polizei mehr.«
Tilda war es leid, gegen den Lärm der Maschine anzubrüllen, und zog kurzerhand das Kabel aus dem Anlasser. Das Moped verstummte augenblicklich.
»Ab jetzt gibt es wieder eine«, sagte sie mit leiser und ruhiger Stimme. »Ich bin die Polizei.«
»Sie?«
»Ich fange heute an.«
Der Junge starrte sie ungläubig an. Tilda zog ihr Portemonnaie aus der Jackentasche und zeigte ihm ihren Ausweis. Nachdem er ihn ausgiebig betrachtet hatte, hob er den Kopf und sah ihr in die Augen. Sein Blick war voller Respekt.
Die Leute begegneten einer Person anders, wenn sie wussten, dass sie von der Polizei war. Wenn Tilda ihre Uniform trug, sah auch sie sich anders.
»Wie heißt du?«
»Stefan.«
»Und weiter?«
»Stefan Ekström.«
Tilda holte ihr Notizheft hervor und notierte sich den Namen.
»Dieses Mal kommst du mit einer Verwarnung davon, aber das nächste Mal gibt es einen Strafzettel«, sagte sie. »Dein Moped ist getrimmt. Hast du den Kolben aufgesägt?«
Stefan nickte kleinlaut.
»Dann musst du jetzt absteigen und nach Hause schieben«, befahl sie. »Und dort musst du den Motor wieder so herstellen, wie er ab Werk gedacht war.«
Stefan stieg ab.
Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her.
»Sag deinen Kumpels, dass die Polizei zurück in Marnäs ist«,sagte Tilda. »Das nächste getrimmte Moped wird beschlagnahmt, und der Besitzer bekommt eine Geldstrafe.«
Erneut nickte Stefan. Dass er erwischt worden war, schien er beinahe als Verdienst zu verstehen.
»Sie haben doch eine Waffe, oder?«, fragte er, als sie den Ort erreicht hatten.
»Ja«, antwortete Tilda. »Die ist aber eingeschlossen.«
»Was ist das für eine Marke?«
»Eine Sig Sauer.«
»Haben Sie damit schon mal jemanden erschossen?«
»Nein«, erwiderte Tilda. »und ich habe auch nicht vor, sie hier einzusetzen.«
»Okay.«
Stefan sah enttäuscht aus.
Mit Martin hatte sie vereinbart, dass sie ihn kurz vor sechs anrufen würde, bevor er von der Arbeit nach Hause fuhr. Bis dahin hatte sie genug Zeit, um ihren
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