Nebelsturm
rhetorische Begabung, fand Tilda. Außerdem schien er gerne im Mittelpunkt zu stehen. Er ließ seinen Blick über die Zuhörer schweifen, die sich auf der Straße vor dem neuen Polizeirevier im kalten Wind versammelt hatten – Journalisten, Kollegen und vielleicht auch der eine oder andere Mitbürger –, und dann fuhr er mit seiner Einweihungsrede fort:
»Die Schutzpolizei ist eine neue Sorte von Polizei, eine viel bürgernähere … vielleicht könnte man sie am ehesten mit den Wachtmeistern aus vergangenen Zeiten vergleichen, die alle Bewohner ihrer Gemeinde beim Namen kannten. Die Gesellschaft ist seitdem natürlich komplexer geworden, es gibt dichtere Netzwerke, aber unsere Polizisten für Nordöland sind bestens vorbereitet auf ihre Aufgaben. Sie werden mit den örtlichen Vereinen und Firmen zusammenarbeiten und ihr spezielles Augenmerk auf die jugendliche Kriminalität richten.«
Der Chef der neuen Polizeieinheit machte eine kurze Kunstpause. »Noch Fragen?«
»Was werden Sie gegen das Gekritzel am Marktplatz machen?«, fragte ein älterer Herr im Publikum. »Da sieht ja scheußlich aus.«
»Die Polizei nimmt jeden Sprayer fest, den sie auf frischerTat ertappt«, antwortete Holmblad. »Wir sind berechtigt, sie zu durchsuchen und die Farbdosen zu konfiszieren. Selbstverständlich zeigen wir da null Toleranz. Vandalismus ist allerdings auch ein Thema, mit dem sich die Schulen und die Eltern beschäftigen müssen.«
»Und die vielen Diebstähle?«, rief ein anderer. »Die jüngsten Einbrüche in die Sommerhäuser und Kirchen?«
»Die Bekämpfung der Einbruchserie gehört zu den wich tigsten aktuellen Aufgaben der Schutzpolizei«, sagte Holmblad. »Das wird vordringlich behandelt, Ziel ist es, die Täter zu fassen.«
Tilda stand wie eine Schaufensterpuppe hinter ihrem Chef, gerader Rücken und den Blick nach vorne gerichtet. Sie war die einzige Frau hier, aber sie wäre im Moment lieber an einem ganz anderen Ort gewesen. Oder besser noch: ein ganz anderer Mensch – zumindest keine Polizistin. Die Uniform war viel zu dick und saß zu eng, sie hatte das Gefühl zu ersticken.
Außerdem wollte sie nicht so dicht neben ihrem neuen Kollegen Hans Majner stehen.
Der Vater der betroffenen Familie auf Hof Åludden hatte vor drei Tagen einen sehr kritischen Leserbrief in der Ölands-Posten veröffentlicht und sich über die Namensverwechslung seitens der Polizei ausgelassen. Er hatte zwar keine Personen genannt, aber nach der Veröffentlichung hatte Tilda den Eindruck, dass die Bewohner von Marnäs sie auf der Straße anders ansahen, prüfend und strafend. Und gestern Abend hatte Holmblad sie angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie zusammen mit ihm nach Åludden fahren müsste, um sich in aller Form zu entschuldigen.
»… und jetzt habe ich noch zwei Kleinigkeiten für unsere beiden neuen Polizisten vor Ort, Hans Majner und Tilda Davidsson. Einmal die Schlüssel für das Revier und dann das hier …« Kommissar Holmblad hob ein längliches, braunes Paket in die Luft, das bis dahin gegen einen Tisch gelehnt gestanden hatte. Er öffnete es und holte ein Ölgemälde hervor, auf dem ein Dreimaster abgebildet war, der sich durch eine harte See kämpfte. »Das istein Geschenk aus Borgholm … eine Art Symbol dafür, dass wir alle im selben Boot sitzen.«
Feierlich überreichte Holmblad das Bild und je einen Schlüsselbund an Majner und Tilda. Majner schloss das Revier auf und hieß alle mit einer ausladenden Geste herzlich willkommen.
Tilda trat einen Schritt zur Seite und ließ ihm den Vortritt.
Das Revier war gerade frisch geputzt worden, und der Boden war blitzblank. An den Wänden hingen Karten von Öland und der Ostsee. Holmblad hatte vier herzhafte Schichttorten mit Krabben bestellt, die auf einem kleinen Kaffeetisch zwischen Majners und Tildas Arbeitsplätzen aufgebaut waren.
Auf Tildas Schreibtisch lagen bereits mehrere Papierstapel. Sie nahm eine der Klarsichtfolien an sich und ging damit zu ihrem Kollegen.
Majner stand neben seinem Tisch und aß von einem Pappteller. Er unterhielt sich gerade mit zwei Kollegen aus Borgholm, die herzlich über einen seiner Witze lachten.
»Hans, hätten Sie einen Augenblick Zeit?«
»Aber natürlich, Tilda.« Majner lächelte seinen Kollegen zu und drehte sich zu Tilda um.
»Um was geht es denn?«
»Ich würde gerne kurz über Ihre Notiz sprechen.«
»Welche denn?«
»Die Todesnachricht von Åludden.« Tilda entfernte sich von der Gruppe, und Majner
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