Nebenan: Roman
hundert Metern niemanden gibt, der gerade ein Abendessen zubereitet, wie es sich für diese Uhrzeit gehören würde.«
Wallerich baute sich vor Till auf, schob seine Mütze in den Nacken und sah herausfordernd zu dem Studenten hinauf. »Na, dann zeig uns mal, wo dieser sagenhafte Baum steht. Ich bin gespannt, wie du ihn finden willst. Wahrscheinlich wirst du uns geradewegs in die Arme der Dunklen führen.«
Till zog das dünne Lederband über den Kopf, an dem der seltsame Stein hing, den Neriella ihm zum Abschied gegeben hatte. Sie hatte gesagt, wann immer er Nebenan den Weg verlieren würde, könne der Stein ihm helfen, und auch Mozzabella hatte behauptet, dass der Stein sie retten könnte, wenn er und die Dryade einander in aufrichtiger Liebe zugetan seien. Till hielt den Splitter vom Herzen des Baumes in seiner Hand und drehte ihn unschlüssig. Er fühlte sich warm an und ein angenehmes, mattgrünes Leuchten ging von ihm aus. Hätte Neriella ihm nur gesagt, wie er zu verwenden ist!
»Nun? Was passiert jetzt?«, fragte Wallerich herausfordernd.
Der Student zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« War seine Liebe vielleicht nicht groß genug, um das Wunder zu wirken, zu dem der Stein angeblich fähig war? Mozzabella hatte behauptet, der Splitter könne sie geradewegs zu einem verborgenen Tor führen. Sie hatte jedoch nicht gesagt, wo es lag, und überhaupt hatte sie aus dem Stein und dem Tor ein großes Geheimnis gemacht.
»Gib mir das Ding mal!« Wallerich streckte Till die Hand entgegen.
Zögernd reichte der Student ihm den Stein. Doch kaum dass Wallerich die Lederschnur in die Hand nahm, verblasste das magische Glühen und Neriellas Morgengabe sah plötzlich aus wie ein ganz gewöhnlicher dunkler Bernstein.
»Jetzt hast du ihn kaputtgemacht, du Banause!« Oswald riss dem Heinzelmann das Artefakt aus der Hand und gab es Till zurück. »Du kleiner Pedant weißt doch gar nicht, was wahre Liebe ist! Untersteh dich den Stein noch einmal anzufassen!«
Wallerich biss die Zähne zusammen, sodass sich Muskelstränge auf seinen kahl rasierten Wangen abzeichneten. Seine Augen jedoch schimmerten feucht. Er wandte sich ab und stapfte ein paar Schritte in die Dunkelheit davon.
Als Till den Talisman in die Hand nahm, glühte der Stein erneut auf. Ohne dass der Student sich bewegt hätte, begann das Lederband hin und her zu pendeln.
»Er will uns eine Richtung weisen«, raunte Martin.
Das schien offensichtlich, doch war sich Till keineswegs darüber im Klaren, welche Richtung. Das Pendel schwang in gerader Linie vom Ausgang des Stollens weg. Also mussten sie entweder in den Nebel hinaus oder aber in den engen Fluchttunnel zurück, weil sie dort vielleicht etwas Entscheidendes übersehen hatten. Aber konnte es richtig sein, wie die Ratten durch die Erde zu kriechen?
Nicht weit entfernt erklang ein unheimliches Heulen. Rolf zog seine Schwerter und sah sich gehetzt um.
Dies war eine Welt der Sagengestalten, entschied Till, und ein überzeugendes Finale konnte niemals in einem Tunnel stattfinden, in dem die Helden auf allen vieren kriechen mussten. Ihre Rettung oder aber das letzte Gefecht mit den Dunklen würde hier draußen im Nebel stattfinden. Auch er zog seine Waffe. »Folgt mir!«, rief er mit fester Stimme und niemand stellte seine Entscheidung infrage.
Bald waren ihre Stiefel und Hosen vom hohen Schnee durchnässt. Eiseskälte kroch ihre Waden empor. Wallerichs Blendlaterne war verloschen und allein der leuchtende Stein wies ihnen den Weg in einer Welt, die nur noch aus Dunkelheit und Nebel zu bestehen schien.
Manchmal hörten sie Geräusche weit hinter sich. Ein Heulen oder auch einen Ruf. Ihre Verfolger schienen ihre Spur gefunden zu haben, doch wurden auch sie durch den Schnee behindert.
Es mochten Stunden vergangen sein, seit sie den Fluchttunnel verlassen hatten, als sie einen großen Wald erreichten. Die Bäume hier waren seltsam gebeugt. In ihren Ästen hingen Tuchfetzen und Amulette aus Knochen und Federn.
Noch immer wies das Pendel geradeaus, doch begann der Stein nun noch intensiver zu leuchten. Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto wärmer wurde es. Bald wich der Schnee eisigem Schlamm, dann ließen sie die Spuren des Winters gänzlich hinter sich. Auch der Nebel lichtete sich. Ein leichter Wind wehte ihnen entgegen und ließ die Knochenamulette in den Ästen leise klackernd aneinander schlagen.
»Das muss ein heiliger Hain sein«, raunte Oswald, »so wie der Steinbruch, in dem
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