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Nebenan: Roman

Nebenan: Roman

Titel: Nebenan: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Hennen
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Kontrollpult zurückgleiten und streckte sich. Es war 2.12 Uhr. Eine gute Zeit für den dritten Kaffee der Nachtschicht. Morgen würde er es vielleicht bereuen und wieder einmal Magenschmerzen haben, aber jetzt war der Gang zum Kaffeeautomaten eine willkommene Abwechslung von der langweiligen Routine. Er stand auf und ließ den Blick noch einmal über die endlosen Reihen kleiner Lampen auf dem Kontrollpult und den Wandtafeln gleiten. Alles war in Ordnung, so wie in allen Nächten, die er hier vergeudet hatte.
    Er sah zu Otto Brunner hinüber, einem kleinwüchsigen Kerl mit Seitenscheitel. Er mochte ihn nicht sonderlich. Als Spießer, wie er im Buche stand, hatte er so viel Unterhaltungswert wie eine tote Laborratte. Wie üblich trug Otto eine ordentliche Krawatte und hatte seinen weißen Laborkittel so weit zugeknöpft, dass man gerade noch den Krawattenknoten sehen konnte. Die Hosen, die unter dem Kittel hervorragten, hatten eine messerscharfe Bügelfalte und die Schuhe blitzten, als kämen sie gerade erst aus dem Schuhkarton.
    Frank sah an sich hinab. Zerknittertes Hemd, ein kleiner Kugelschreiberfleck am rechten Ärmel eines Kittels, der schon bessere Tage gesehen hatte. Dazu eine abgewetzte Jeans. Wenn die Welt gerecht wäre, dann wäre Otto hier der Chef. Er war ohne Zweifel auch der bessere Physiker. Aber die Welt war ein absonderlicher Ort und dem Schicksal gefiel es ohnehin, den Braven und Strebsamen regelmäßig einen Arschtritt zu verpassen. So kam es, dass er, Frank Schütte, der ehemalige Anti-AKW-Demonstrant, in dieser Nacht im Kontrollraum A des Blocks B des Atomkraftwerks Bilbis das Sagen hatte und nicht Otto Brunner.
    »Ich bin mir ’nen Kaffee holen.«
    Otto hob den Kopf und fixierte ihn kurz über das Cover von Bild der Wissenschaft hinweg. Seine leidenschaftslosen grauen Augen wirkten hinter der dicken Brille so groß wie Fünfmarkstücke. »Ist gut«, murmelte er einsilbig und vertiefte sich wieder in seinen Artikel über die Chaostheorie.
    Frank warf einen letzten Blick auf die Kontrolltafeln und ging dann auf den schmalen Flur hinaus. Es waren genau achtzehn Schritte bis zum Kaffeeautomaten. Achtzehn Schritte zu seiner kleinen Freiheit. Ein Markstück verschwand im schmalen, von tief eingegrabenen Schrammen gesäumten Schlitz. Im Inneren des Automaten erklang ein Röcheln, als würde eine frankensteinsche Monstrosität zum Leben erwachen. Mit leisem Klacken senkte sich ein karamellfarbener Plastikbecher unter die Düse, die schon im nächsten Augenblick begann schäumend schwärzliche Flüssigkeit abzusondern. Frank wunderte sich jedes Mal aufs Neue, wie so falscher Kaffee so verdammt echt riechen konnte. Mit einem Fauchen, das wie der Todesseufzer eines Drachen klang, endete der Kaffeeerguss. Frank schnupperte noch einmal genießerisch und streckte dann die Rechte nach dem engen Automatenschacht, in dem sein Kaffee angedockt hatte, als eine Alarmsirene das Pausenidyll zerstörte. Schrilles Tuten jagte über den Flur. Gegenüber der Tür zum Kontrollraum war eine rote Signallampe zu flackerndem Leben erwacht.
    Franks erster Gedanke war fortzulaufen, doch antrainierte Vernunft siegte über den Fluchtreflex. Wenn etwas wirklich Schlimmes passiert sein sollte, dann war er im Kontrollraum sicherer als draußen. Er ließ den Kaffeebecher fallen und stürmte dem Signallicht entgegen.
    Otto hämmerte wie ein Besessener auf die Tastatur seines Computers. Die Warntafel leuchtete wie ein Weihnachtsbaum. Die Lichter meldeten Druckverlust auf allen Turbinen.
    »Haben wir ein Leck?«
    Statt einer Antwort erklang das Klicken der Tastatur.
    »Hast du mich verstanden?«
    »Kein Leck … Trotzdem sinkt der Druck in den Turbinenkammern immer weiter. Es scheint, als seien alle Dampfdruckleitungen unterbrochen, aber ich bekomme keine Meldung für austretenden Wasserdampf. Wir sind jetzt vom Netz …«
    Frank blickte erneut zur Kontrolltafel. Er versuchte aus den leuchtenden Lampen auf die Art des Störfalls zu schließen. Vergebens. Die Meldungen schienen völlig widersinnig. Er hatte Dutzende von Simulationen zu Reaktorstörfällen in Seminaren durchgespielt, aber die Anzeigen auf den Tafeln passten in kein Schema.
    »Was ist mit der Brennkammer? Wie steht der Wasserpegel?«
    Wieder das Klicken der Tastatur. Frank hielt den Atem an. Wenn der Wasserstand um die Brennelemente fiel, würde Bilbis morgen früh so berühmt sein wie Tschernobyl. Aber das wäre dann nicht mehr seine Sorge. Er würde dann nie mehr

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