Nebenweit (German Edition)
dass Artix für kurze Zeit an einem anderen Ort gewesen war, einem Ort, den sie und andere zuvor nur in ihrem Träumen erlebt hatten.
Aber wie sie sich dieses Geschehen erklären sollten, war ihnen ein Rätsel. Mantrax ahnte, dieses Rätsel würde ihn noch lange Zeit beschäftigen, wusste aber zugleich, dass da etwas unfassbar Neues auf ihn und jene zukam, die nach dem Willen der Götter seinem Schutz befohlen waren.
»Geh jetzt, Kind, geh zu deinen Eltern«, sagte er und legte die ganze Güte, zu der er fähig war, in seine Stimme. »Sie sollen dir warme Milch zu trinken geben und dich schlafen lassen. Du warst wirklich sehr tapfer. Und wenn du wieder träumen solltest, musst du dir alles gut merken und gleich zu mir kommen und mir berichten. Geh jetzt schlafen, Kind, und mögen die Götter über deinen Schlaf wachen.«
***
1810
Elax war stolz, sehr stolz sogar. Gestern war er aus der Anderen Welt zu den Seinen zurückgekehrt, hatte sich von seinem Clan feiern lassen, hatte Lob von den Weisen Männern und Frauen entgegengenommen, als er ihnen Bericht erstattet und die Bücher abgeliefert hatte. Ein Jahr war er in der Anderen Welt gewesen, hatte deren Sprache gelernt und konnte sie jetzt sprechen wie einer der Anderen, sich wie sie kleiden und all die Orte besuchen, die die Anderen besuchten. Es war sein dritter Aufenthalt in der Anderen Welt gewesen, und diesmal hatte er dort eine eigene Wohnung gehabt, hatte als Tischlergeselle gearbeitet, das Geld für seinen Lebensunterhalt verdient und mehr Geld nach Hause zurückgebracht, als man ihm vor einem Jahr mitgegeben hatte.
Die Weisen hatten ihn aufgefordert, vor der Dorfversammlung zu berichten, und das würde er später auch tun. Er war so stolz, dass er kaum Angst davor verspürte, vor so vielen Leuten im Mittelpunkt zu stehen und zu reden, als wäre er einer der Weisen. Er musste ständig daran denken, was er erzählen würde, damit auch ja alle begriffen, was er in der Anderen Welt alles geleistet hatte. Munix würde auch kommen, sie hatte auf ihn gewartet, ganz wie sie es ihm versprochen hatte. Sie trug jetzt den Anhänger, den er ihr mitgebracht hatte, ein Kettchen aus Silber mit einem Kreuz daran, so wie es die Frauen in der Anderen Welt trugen. Sie würden heiraten, das hatte sie ihm versprochen, ihre Eltern hatten bereits zugestimmt. Schließlich war er jetzt ein bedeutender junger Mann, einer, auf den viele voll verstecktem Neid blickten, ein Weitgereister, der den ›Rutsch‹ beherrschte, einer, der jederzeit in die Andere Welt gehen und von dort auch jederzeit zurückkehren konnte.
Nur ganz wenige im Dorf konnten das, und die Weisen hatten gesagt, er müsse dabei mithelfen, diese Fähigkeit anderen zu vermitteln, sie lehren. Warum sie das wollten, hatten sie ihm nicht gesagt, und er machte sich darüber seine eigenen Gedanken. Ob es wegen der Bücher war, die er hatte mitbringen müssen? Es waren alles Bücher, aus denen man lernen konnte. Lernen, wie man Krankheiten behandelte, oder andere, die einem auf bunten Bildern zeigten, wo in der Anderen Welt überall Menschen lebten. Menschen, die, wie er dort erfahren hatte, andere Sprachen sprachen als die, die er gelernt hatte, Menschen, die viele Tagesreisen entfernt lebten und ganz andere Sitten und Gebräuche pflegten als die, die er kannte.
Als er zum ersten Mal davon gehört hatte, hatte er es nicht glauben wollen. Hier, in seiner Welt gab es nur den Stamm, seinen eigenen Clan, die sechs anderen Clans und natürlich die Weisen, die die Geschicke der Menschen lenkten. Jeder Clan hatte sein eigenes Dorf, und keines der Dörfer war weiter als eine Tagesreise zu Pferd entfernt. Sein eigenes Dorf, das sich Luteta nannte, lag in der Mitte. In ihm traf sich der Kreis der Weisen Männer und Frauen, wenn Entscheidungen getroffen werden mussten oder wenn es galt, die Sonne zu feiern, wenn sie auf ihrem Weg durch den Himmel wendete und die Tage wieder länger wurden.
Ob es nur die Bücher waren, weshalb die Weisen wollten, dass immer mehr junge Männer und Frauen den ›Rutsch‹ lernten? In seinem Dorf waren es etwa zwanzig Männer und ein Dutzend Frauen, die die Kunst beherrschten, in den anderen Dörfern mochten es ebenso viele sein. Aber niemand war bisher so lange in der Anderen Welt gewesen und niemand beherrschte die Sprache der Anderen so gut, dass er sich für einen der Anderen ausgeben konnte. Den anderen hatte man eingeschärft, dass sie so tun müssten, als wären sie stumm, hatte ihnen
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