Nebenwirkungen (German Edition)
partout nicht berühren wollten.
»Man sieht schon die Insel am Horizont, meine Liebe. Bald Zeit für den zweiten Landgang.«
»St. Thomas?«
»Ja. Die Virgin Islands. Ich weiß nicht, welche der Inseln man von hier aus sieht, aber wir werden bald mehr erfahren, denke ich.«
»Das glaube ich auch«, schmunzelte Sophie und deutete mit dem Kinn zum Eingang, von wo Oliver mit umgehängtem Fernglas und Buch unter dem Arm triumphierend auf sie zu steuerte.
»Hast du den Klabautermann gesehen? «, wunderte sich Tom.
»Wer ist denn das?«
»Eine lange Geschichte. Erzähl ich dir später mal.« Tom wunderte sich immer wieder über die fundamentalen Wissenslücken der heutigen Jugend. Selbst aufgeweckte Kerle wie Oliver kannten keine alten Legenden mehr, nur noch die bis zur Unkenntlichkeit verfälschten Bruchstücke aus Filmen und Computerspielen. Der Junge zuckte die Achseln und rückte mit der Neuigkeit heraus:
»Ich darf zum Captain. Dad hat gefragt, und wir dürfen auf die Brücke; zusehen, wie das Schiff einläuft.« Er hatte das ganz große Los gezogen und strahlte bis über beide Ohren. »Kommst du mit, Onkel Tom?«
»Klar, wenn ich darf. Hat mich schon lange gewundert, wie man diesen Kahn steuert.«
»Mit einem Joystick. So winzig«, antwortete das kleine wandelnde Lexikon und spreizte zwei Finger, um die lächerliche Größe des Steuerknüppels zu illustrieren.
»Wenn du es sagst.«
Als die beiden sich auf den Weg machten, zog sich Sophie in ihre Kabine zurück und griff zum Telefon. Zeit, sich wieder um ihr eigenes Kind zu kümmern.
»Doch, es geht mir gut, Mom«, antwortete Samantha hörbar gestresst auf die unausweichliche Frage ihrer Mutter. »Ich habe nur leider keine Zeit. Ich erwarte einen dringenden Anruf, entschuldige.«
»Du scheinst neuerdings nie mehr Zeit für dein Privatleben zu haben. Aber ich will dich nicht stören. Ich wollte nur deine Stimme hören und dir mitteilen, dass wir in der Karibik angekommen sind. Wir werden in Kürze im Hafen von St. Thomas anlegen.« Ihre Trennung war falsch , dachte sie bitter, nachdem sie aufgelegt hatte.
Die ebenso elegante wie kolossale Crown of the Seas hatte inzwischen merklich an Fahrt verloren und passierte den beeindruckenden Frachthafen der kleinen Insel, wo eben ein unscheinbares Containerschiff andockte. Eine willkommene Unterbrechung der langen Reise vom Horn von Afrika in die USA für die Mannschaft der African Queen II.
KAPITEL 9
London, Docklands
S amantha stand auf und fuchtelte wild mit den Armen in ihrem Glashaus. Robert, der sich inzwischen an Kyles Arbeitsplatz eingerichtet hatte, eilte unverzüglich zu ihr und hörte eben noch die letzten, atemlos herausgepressten Worte Bastiens aus dem Lautsprecher des Telefons, bevor er verstummte und eine ruhige, tiefe Stimme sagte:
»Sie hören, wir meinen es ernst.« Samantha ballte beide Hände zu Fäusten und musste sich beherrschen, um nicht in ohnmächtiger Wut auf den Apparat einzuschlagen. Es kostete sie große Mühe, einigermaßen gefasst zu antworten:
»Hören Sie. Achtundvierzig Stunden sind viel zu kurz, um einen neuen Artikel in die Ausgabe aufzunehmen. Wir ...« Die tiefe Stimme unterbrach sie:
»In der nächsten Ausgabe, wenn Sie Ihren Mitarbeiter lebend wiedersehen wollen.« Samantha wollte antworten, doch der Anrufer hatte aufgelegt.
»Verflucht!«, schimpfte sie und ließ sich in den Sessel fallen.
»Das sind Profis. Die verhandeln nicht«, bemerkte Robert, während er nachdenklich aus dem Fenster schaute. Die Hoffnung, dass der kurze Anruf Scotland Yard einen Schritt weiter gebracht hatte, war verschwindend klein. Die Zeit würde niemals reichen, um die Verbindung zurück zu verfolgen. Samanthas IT-Spezialisten hatten ihrerseits erfolglos versucht, den Ursprung der Mail zu ermitteln. Sie waren schon beim ersten Anonymisierungsservice gescheitert. Robert fragte sich, ob sie wirklich alle potenziellen Informationsquellen berücksichtigt hatten, die ihnen einen Hinweis auf Bastiens Aufenthalt geben konnten. Er blickte Samantha an, die wütend ins Leere starrte. Auf ihrem Schreibtisch lag noch immer Bastiens Handy.
»Das ist es!«, rief Robert plötzlich aus.
»Was?«
»Das Telefon. Ich habe mir die ganze Zeit überlegt, was wir vergessen haben. Wir haben Bastiens Telefon nicht untersucht. Vielleicht finden wir hier etwas, das uns weiter bringt. Darf ich?« Sie nickte überrascht und er griff nach dem Apparat. »Diese Dinger sind nämlich auch potente
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