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Nebenwirkungen (German Edition)

Nebenwirkungen (German Edition)

Titel: Nebenwirkungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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werfen in dunklen Pubs. Aber ihr sollte es recht sein. Es tat dem alten Knacker sicher gut, sich in der frischen Seebrise zu bewegen, und er hatte den Narren gefressen am jungen Oliver, der ihn dauernd löcherte mit allen möglichen und unmöglichen Fragen zu seinem früheren Beruf. Tom war Zeit seines Lebens stolzer Eisenbahner gewesen und hatte während seiner dreißigjährigen Karriere als Lokomotivführer so ziemlich alle Hochs und Tiefs der Britischen Eisenbahngeschichte miterlebt. Oliver hingegen stammte aus Boston, wo sein Vater eine Anwaltspraxis betrieb, was natürlich nicht halb so interessant war wie Onkel Toms Geschichten.
    Der gestreckte Rundkurs auf dem Sonnendeck vierzig Meter über der See war gut und gerne einen halben Kilometer lang, sodass Tom jeweils nach vier oder fünf Runden genug hatte und in der Duschkanine verschwand. Der Junge, noch immer taufrisch nach dieser kurzen Strecke, verstand nicht, wie der alte Mann derart ins Schwitzen kommen konnte und beeilte sich, zwei Liegestühle an der Reling zu besetzen; eine Routine, die sich mittlerweile zwischen den beiden eingespielt hatte.
    »Na, Oliver, ist die Black Pearl noch nicht in Sicht?«, fragte Tom lachend, als er sich zum Jungen setzte. Er hatte inzwischen einiges gelernt von Oliver und wusste nun besser Bescheid über den Filmhelden Jack Sparrow und dessen Piratenschiff, das sogar den Fliegenden Holländer locker überholte, und der war doch schon schneller als der Wind. Der Junge grinste.
    »Leider nein. Ist aber auch kein Wunder. Die greifen nur nachts und im Morgengrauen an.«
    »Dann bin ich ja beruhigt, obwohl...« Tom machte eine Kunstpause.
    »Was?«, fragte der Junge ungeduldig.
    »Nachts anzugreifen ist in Wirklichkeit ziemlich fies. Um ein Haar wäre mein Güterzug eines Nachts von üblen Gesellen überfallen worden. Du hast vielleicht von den berüchtigten Posträubern in England gehört.« Diese Geschichte erzählte Tom am liebsten. Er schmunzelte befriedigt, als Oliver wie elektrisiert auffuhr.
    »Ich habe den Film gesehen. Die haben dich überfallen?«
    »Beinahe. Ich hatte großes Glück. Nur weil ich meinen Dienst wegen einer Familienfeier abgetauscht hatte, stand ich in der Nacht vom 6. August 1963 im Führerstand, und nicht in der folgenden Nacht, als die Posträuber zuschlugen. Ich musste zur gleichen Zeit, gegen drei Uhr morgens, am Signal der Sears Crossing bei Cheddington halten, wo vierundzwanzig Stunden später der Postzug angehalten wurde.«
    »Die Räuber haben das Signal falsch gestellt, glaube ich.«
    »Ja, aber auf ganz raffinierte Weise. Sie mussten ja das Signal auf rot stellen, ohne dass im Stellwerk eine Warnung aufleuchtete. Weißt Du, wie die das gemacht haben?« Oliver schüttelte nur den Kopf und hing an seinen Lippen.
    »Simpel einfach. Die einfachsten Ideen sind oft die wirksamsten, glaub mir. Einer der Räuber hat einfach einen Sack über das grüne Signal gestülpt und die rote Lampe über eine Batterie zum Leuchten gebracht.«
    »Wahnsinn. Das hätte ich ja auch fertig gebracht«, staunte der Junge.
    »Ja, aber die Idee musst du zuerst einmal haben. Nun, was die Posträuber getan haben, ist schlecht, das darf man natürlich nicht. Aber sie waren sehr kreativ, das muss ich ihnen lassen.« Plötzlich sprang Oliver auf und deutete aufgeregt nach vorne.
    »Land in Sicht! Ich hole das Fernglas.«
    »Ich bin in der Lounge«, rief ihm Tom nach, doch er war schon weg. Toms Frau Sophie saß um diese Zeit in der rundum verglasten Crown Lounge beim Tee. Hier, am höchsten Punkt des Schiffs, konnte sie alles ohne zerzaustes Haar überblicken, die Gedanken in die Ferne oder in die Vergangenheit schweifen lassen und sich nebenbei über den Zoo skurriler, langweiliger, eleganter, überkandidelter, smarter und blöder Passagiere amüsieren.
    »Du hast mich gerettet«, flüsterte sie zwischen den Zähnen, als Tom sich zu ihr setzte und nickte einer mit schwerem Goldschmuck behangenen und unsäglich geschmacklos gekleideten älteren Junggebliebenen freundlich zu, die sich eben von ihnen abwandte. Er kannte die Frau. Die neureiche Witwe bewohnte die eine Kabine neben ihnen. Im Gegensatz zu den Stanwoods mit dem witzigen Oliver, den Nachbarn zu ihrer Rechten, hätten sie auf diese richtiggehend aufdringliche Bekanntschaft sehr wohl verzichten können. Sophie hatte ein gewisses Verständnis dafür, dass die einsame Frau Gesellschaft suchte, aber sie fand beim besten Willen keinen Draht zu ihr; zwei Welten, die sich

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