Nebenwirkungen (German Edition)
hervor. War die Luft endlich rein? Seit Stunden, wie es schien, hatte es hier von Bullen gewimmelt, denen er als Obdachloser grundsätzlich lieber aus dem Weg ging. Sie waren in sein Schiff eingedrungen. Schiff, so nannte er das leere Lagergebäude am Hanover Gate, wo er normalerweise seine Nächte verbrachte, denn früher war er lange Jahre zur See gefahren. Die ungebetenen Gäste waren offenbar wieder abgezogen, sodass er sich aus seinem Versteck wagte und wachsam dem Gebäude näherte. Wie üblich enterte er das Schiff durch den Hintereingang, dessen Schlüssel er unter der Vortreppe deponiert hatte. Die Bullen waren offenbar zu blöde, ihn zu finden, sonst hätten sie keine Fenster einschlagen müssen. Er stieg ins obere Stockwerk, zog die nicht mehr ganz taufrische Matratze unter dem alten Schreibtisch hervor, öffnete die halbe Flasche Port, die er in einer Straßenkneipe ›gefunden‹ hatte und entspannte sich endlich.
»Was die wohl hier gesucht haben?«, brummte er und leckte sich die Lippen. Dieser Portwein war nicht zu vergleichen mit der billigen Massenware vom Tesco, die er sich ab und zu leistete. Hier trank man sozusagen direkt aus dem alten Holzfass. Das Gesöff musste ein Vermögen gekostet haben. Er schloss die Augen, ließ die Delikatesse gemächlich über die Zunge rinnen und begann zu träumen.
Plötzlich schreckte er auf. Toc - toc - toc. Tatsächlich, er hatte schwache Klopfzeichen gehört. Er lauschte angestrengt. Einige Zeit war es still, dann begann das Klopfen von neuem. Insgesamt neunmal mit unterschiedlichen Pausen pochte jemand oder etwas an ein Metallrohr. Der Captain kannte dieses Signal sehr gut: dreimal kurz, dreimal lang und wieder dreimal kurz, die Morsezeichen für SOS. Jemand rief um Hilfe auf seinem Schiff! Er erhob sich mühsam und überlegte. Abhauen war der erste Gedanke, doch dann siegte die Neugier. Er wollte wissen, wer der blinde Passagier war. Woher kamen die Zeichen? Das Klopfen war verstummt, doch soweit er sich erinnerte, schienen die Geräusche aus dem vorderen Teil des Hauses zu kommen. Vorsichtig stieg er die Treppe hinunter und spähte um die Ecke in den Flur zum Büro, als er plötzlich zurückschreckte. Das Geräusch war wieder da, und diesmal hörte er es deutlicher. Er nahm allen Mut zusammen und rief laut:
»Halt, wer da?« Keine Antwort. Nichts regte sich, nur das Klopfen ging weiter. Kaum betrat er den Korridor, begriff er, woher das Geräusch kam, denn es schien, als klopfte jemand von innen an die Tür des ausrangierten Aufzugs. Er rüttelte am Türgriff und polterte an die Metalltür. Die Klopfzeichen hielten kurz inne, dann wiederholte sich das monotone SOS. Jemand musste im Liftschacht eingeschlossen sein. Da war guter Rat teuer. Er musste Hilfe holen, und das passte ihm ganz und gar nicht, denn er fürchtete, dass ihn die Bullen aus seinem Schiff vertreiben würden. Aber es half nichts, er musste in diesen sauren Apfel beißen. Er verließ das Gebäude durch den Vordereingang und wandte sich nach rechts zur Park Road. Er hoffte, hier in der Gegend um den großen Kreisel einen der Bobbies zu treffen, die ihn schon lange kannten.
»Guten Abend Captain«, sagte eine vertraute Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und blickte ins freundliche, stets gerötete runde Gesicht von Sergeant Harris.
»Abend Sergeant. Sie müssen mitkommen, hab was gesehen.« Der Sergeant lächelte. Es war nicht das erste Mal, dass sein Bekannter Geister sah.
»Doch keine weißen Mäuse?«, fragte er und schnüffelte mit gerümpfter Nase.
»Nein, und ich bin stocknüchtern, wenn Sie das meinen. Eigentlich habe ich nichts gesehen, nur gehört. SOS.« Sergeant Harris verzog das Gesicht.
»Ein Schiff in Seenot, mitten in London?«
»Kommen Sie jetzt? Es scheint jemand im Aufzug festzustecken«, antwortete der Captain mürrisch. Er wurde langsam ungeduldig. Da wollte man einmal jemandem helfen und die Leute lachten einen bloß aus. Scheißbullen , dachte er und trottete davon. Der Sergeant sah ihm eine Weile nach, dann folgte er ihm. Er wollte wissen, was der alte Seebär in einem Aufzug zu suchen hatte.
»Hier«, brummte der Captain und zeigte auf die Aufzugtür im verlassenen Lagerhaus. Der Sergeant blickte ihn verwirrt an, denn er sah und hörte nichts Ungewöhnliches. Der Alte polterte an die Tür, und kurz darauf vernahmen sie die deutlichen SOS-Klopfzeichen.
»Ist vielleicht der, den ihr heute hier gesucht habt mit eurer Armee«, brummte der Captain.
»Gesucht?«
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