Nebenwirkungen (German Edition)
den Silvester in Heidelberg statt in London zu verbringen. Sie standen praktisch dauernd über eine Chat-Verbindung in Kontakt, so war er stets bestens über die Entwicklungen und Ereignisse in der Stadt am Neckar und ihrer Universität im Bilde, und sie waren sich ein ganzes Stück näher gekommen.
»Keine Puste mehr?«, rief sie spöttisch durch den dicken Wollschal, den sie um Hals und Mund geschlungen hatte. Er war etwas zurück geblieben, hatte in Gedanken versunken die Lichter der Altstadt und ihre tanzenden Spiegelbilder im Wasser betrachtet.
»Puste genug, um dich locker den Berg hinauf zu tragen«, prahlte er.
»Gut«, lachte sie und blieb stehen. Er schaute ihr mit gequältem Dackelblick in die Augen, doch es half nichts. Gnadenlos ließ sie sich huckepack auf die Anhöhe schleppen.
»Du kannst ganz schön gemein sein, weißt du das? «, keuchte er, als er sie auf dem Weg absetzte, den lange vor ihnen schon Joseph von Eichendorff, Friedrich Hölderlin und tausende von Studenten der sieben freien Künste, die Herren Philosophi eben, betreten hatten.
»Konsequent ist das richtige Wort, Monsieur.« Sie streifte den Schal vom Mund und küsste ihn sanft auf die Wange. »Armer Angeber.«
Je näher sie dem Abschnitt des Philosophenwegs kamen, von dem man freie Sicht auf die Stadt hatte, desto dichter wurde die Menschenmenge, die sich hier in Erwartung des Feuerwerks versammelt hatte. Er nahm sie bei der Hand und sie suchten sich ein freies Plätzchen auf der Steinmauer, wo sie sich auf die vorsorglich mitgebrachten Decken setzen konnten. Lange betrachteten sie schweigend das Spiel der Lichter und Farben auf dem schwarzen Fluss, das lebhafte Treiben der zahllosen Menschen auf der Brücke, am Tor, vor dem Marstall, in der Steingasse und rund um die hell erleuchtete, mächtige Heiliggeistkirche. Der fröhliche Lärm der Nachtschwärmer drang bis zu ihnen herauf. Vereinzelt krachte ein verfrühter Feuerwerkskörper, schoss ein Luftheuler, eine funkensprühende Rakete mitten aus der Menschenmenge. Sie hörten die lauten, heiteren und angeheiterten Kommentare der Umstehenden in allen möglichen Sprachen, ohne wirklich zuzuhören.
»Wer tritt jetzt eigentlich in Heikes Fußstapfen?«, fragte Bastien unvermittelt. Amélie hatte dieses Thema bisher merkwürdig konsequent gemieden.
»Paul. Er ist so gut wie gewählt.«
»Nicht Du? Du warst doch ihre engste Mitarbeiterin«, sagte er überrascht.
»Ich wollte nicht.« Sie blickte ihn ernst an. »Ich habe gekündigt, werde von hier wegziehen.« Sie zögerte, bevor sie weiter sprach. »Ich will mich auf ein neues Gebiet konzentrieren. Die Epidemie hat tausende von Menschen mit mehr oder weniger schweren Hirnschäden hinterlassen, und ich muss einfach versuchen, ihnen zu helfen. Ich bin überzeugt, dass die synthetische Biologie großes Potenzial hat, die Reparatur von Nervenzellen und Hirnstrukturen zu ermöglichen.«
»Kannst du das denn nicht hier tun?«
»Vielleicht könnte ich hier etwas aufbauen, aber wir sind nicht wirklich darauf eingerichtet. Und ich muss einfach weg aus dieser wunderschönen Stadt. Zu viele böse Erinnerungen.«
»Weißt du denn schon, wohin du ziehen wirst?«
»Ja«, sagte sie kokett und wartete, bis er die Geduld verlor.
»Und? Sag schon.«
»Paris. Ich habe ein gutes Angebot eines Pharmakonzerns in Paris erhalten«, antwortete sie lächelnd und fügte schnell hinzu: »Nicht BiosynQ.«
»Paris!«, rief er aus. »Gratuliere, das ist wunderbar. Zurück in die Heimat, sozusagen.«
»Ja. Wie es aussieht, ist das mein letztes Feuerwerk in Heidelberg.«
»Das ist also dein Abschied.«
»Mhm«, murmelte sie, dann sagte sie leise: »Der Abschied fällt mir schon nicht leicht. Ich hatte trotz allem eine gute Zeit hier. Schön, dass du dabei bist.« Lange beobachteten sie schweigend, wie die Stimmung um sie herum und unten in den Gassen der Stadt langsam ihren Höhepunkt erreichte. Sie schmiegte sich an ihn und flüsterte:
»Kalt.« Er legte den Arm um sie, zog sie an sich. Sie ließ es geschehen und kuschelte sich enger an ihn.
»Besser?« Sie nickte, schaute zu ihm auf, schloss die Augen. Verlegen und unbeholfen rückte er ihren Schal zurecht. »Worauf wartest Du?«, murmelte sie leise, ohne die Augen zu öffnen. Endlich begriff er, und seine Lippen berührten zum ersten Mal die ihren.
»Viel besser«, lachte sie, als sie wieder Luft geholt hatte. Lärm und Jubel der Silvesternacht rückten plötzlich weit weg, als sie sich glücklich
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