Nebenwirkungen (German Edition)
in den Armen lagen. Das bevorstehende grandiose Schauspiel hatte seinen Reiz verloren; nur sie beide in ihrer zarten Monade waren jetzt noch von Bedeutung. Ohne ein Wort wechseln zu müssen, räumten sie ihren begehrten Logenplatz auf der Mauer hoch über der Stadt und eilten den Hang hinunter zur Alten Brücke.
»Schnell, dann schaffen wir es noch über die Brücke!«, rief Amélie. In letzter Sekunde schlüpften sie durch die Absperrung, drängten sich die Steingasse hinauf, schwenkten nach rechts in die etwas weniger bevölkerte Untere Straße und erreichten das Universitätsgebäude, als die Kirchenglocken begannen, das alte Jahr auszuläuten. Willenlos und glücklich ließ sich Bastien von Amélie zum geparkten Mini, ihrem Winter-BMW, wie sie den Wagen nannte, führen, und als die ersten kolossalen bengalischen Feuer das Schloss und die Alte Brücke in blutrot loderndes Licht tauchten, schwenkten sie schon in die Mannheimer Straße ein, auf dem Weg zu Amélies Wohnung.
»Sam wird das gar nicht gefallen«, brummte Bastien unvermittelt.
»Was?«
»Wenn ich London verlasse. Ich werde ja wohl nach Paris ziehen müssen«, grinste er, und als Antwort versetzte sie ihm einen kräftigen Stoß in die Rippen.
London, Docklands
Kaum hatte Samantha den Hörer aufgelegt, klopfte Bastien an die Glaswand ihres Büros und trat ein.
»Du wirst nicht glauben, was ich eben im Netz gefunden habe«, sagte er mit verschwörerischem Gesichtsausdruck und wartete, bis sie ihn fragend anblickte. »Du erinnerst dich sicher an den weißen Riesen von BiosynQ, der eine sehr dubiose Rolle gespielt hat in Botswana?« Sie nickte. Die Erinnerung an Kyles Geschichte und Roberts Begegnungen mit dem Kerl war nur allzu lebendig.
»Dieser Nils Nolte taucht in einer kurzen Meldung des CIPRO auf. Das ist das Büro für die Registrierung von Firmen in Südafrika.«
»Und? Hat er eine Reinigungsfirma gegründet?«
»Braucht er nicht. Er ist jetzt Mitglied der Geschäftsleitung einer gewissen SandVisor Corporation in Rustenburg, Südafrika.« Samantha rümpfte die Nase, als sie den Namen der menschenverachtenden Söldnertruppe hörte.
»Na, gratuliere, ein perfekter Deal«, lachte sie bitter. »Hoffentlich bleibt er auch dort.«
»Jedenfalls ist er am richtigen Ort, wenn die saubere Geschäftsleitung eines Tages in corpore ins Kittchen wandert«, brummte Bastien. Er hatte die Kurzmeldung bei der Arbeit an seinem neusten Werk entdeckt. Die Aufarbeitung der Ereignisse des vergangenen Jahres hatte derart umfangreiches Material zutage gefördert, dass er mit Samanthas ausdrücklichem Segen beschlossen hatte, die Entwicklung und Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen in einem Buch zu verarbeiten. Es würde sein letztes Werk als Mitarbeiter von Life! sein. Er hatte sich intensiv mit den Folgen der Katastrophe befasst. Die verantwortlichen Leute bei BiosynQ waren sehr rasch ausgewechselt worden, doch die einzige Spur zu den Entlassenen, die er fand, war diese Kurznachricht über Nils. Bei aller Tragik hatte die Geschichte aber auch ihre positiven Seiten. Eine davon hielt er in seiner Hand. Er legte das Papier auf Samanthas Schreibtisch.
»Es gibt auch gute Nachrichten aus Afrika, Sam.« Sie betrachtete das Blatt mit dem Ausdruck einer e-Mail von Amélie, an die das Faksimile einer bunten Postkarte angehängt war. Die Karte stammte aus Botswana, und in unbeholfener Schrift, aber verständlichem Englisch stand zu lesen:
Liebe Katie und Paul,
es geht mir gut. Die Schule ist gut.
Danke,
Nyack
Samantha betrachtete die paar Wörter lange nachdenklich. Ein warmes Lächeln umspielte ihren Mund, als sie sagte:
»Ein kleines Wunder. Du hast recht, dieser Junge und seine Kameraden hätten ohne die Katastrophe vielleicht nie die Chance auf ein besseres Leben gehabt. Es tut gut, so was zu sehen.« Bastien stand am Fenster und betrachtete das pulsierende Leben weit unten am Fluss. Es war ein strahlender Frühlingsmorgen mit Schäfchenwölkchen am stahlblauen Himmel. Die Schleife der Themse glitzerte wie ein Diadem im strahlenden Sonnenschein und zahlreiche Boote schienen fröhlich um die weiß leuchtende Kuppel des Millennium Dome zu tanzen. Das Leben war in die Docklands zurückgekehrt.
»Ein schöner Tag um zu putzen«, sagte er. Heute fand der Spring clean, der jährliche Frühjahrsputz in den Docks statt. Hunderte von Freiwilligen fischten verrostete Einkaufswagen aus den Kanälen, übermalten die abgeblätterte Farbe auf den Brücken,
Weitere Kostenlose Bücher