Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebenwirkungen (German Edition)

Nebenwirkungen (German Edition)

Titel: Nebenwirkungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
Vom Netzwerk:
Monstrosität an«, sagte sie und zeigte auf das im Sonnenlicht rötlich leuchtende kolossale Schloss. »Ein scheußliches Gemisch verschiedener Stile, halb Ruine, halb Palast. Die Proportionen sind so missraten, dass das grässliche Gebilde jeden Augenblick auseinander zu fallen droht. Aber die Aussicht von der Terrasse ist unbeschreiblich.« Er war stehen geblieben, hatte dem unerwarteten Ausbruch ihrer Emotionen mit offenem Mund zugehört. Als sie es bemerkte, drehte sie sich um und lachte herzlich. »Ist doch wahr«, fügte sie schließlich hinzu und ging weiter. Kyle musste ihr recht geben. Als sie auf der Terrasse standen und auf die Stadt zu ihren Füßen blickten, auf den im Gegenlicht silbern schimmernden Fluss und die sanften grünen Hügel, konnte er sich kaum satt sehen. Die hektische Betriebsamkeit seiner Arbeitswelt war einem wohltuenden Frieden gewichen. Er hatte das Gefühl, hier oben freier atmen zu können. Heike, die ihn unbemerkt von der Seite beobachtete, schmunzelte beruhigt. Sie hatte ihn richtig eingeschätzt. Auch er war empfänglich für solche Augenblicke. Endlich räusperte sich Kyle, und er sagte leise:
    »Großartig«,
    »Ja. Der kleine Ausflug hat sich gelohnt, nicht?«
    Sie setzten sich auf eine Bank und ließen sich von den Strahlen der untergehenden Sonne wärmen. Heike schloss die Augen. Mit sich und der Welt zufrieden, schien sie zu schlafen.
    »Wohin soll's denn heute Abend gehen?«, wollte Kyle plötzlich wissen.
    Sie antwortete ohne die Augen zu öffnen: »Abwarten. Es wird etwas ganz Spezielles; wird Ihnen gefallen.« Sie stand auf. »Kommen Sie, ich habe auch Hunger.« Sie führte ihn vom Schlosshügel auf einem anderen Weg wieder in die Stadt hinunter zum Kornmarkt. Dort bog sie in die vom Touristenvolk verstopfte Hauptstraße ein.
    »Zurück ins Büro?«
    »Am Büro vorbei. Unser Ziel liegt unten am Fluss.«
    Auf der Höhe der Universität schwenkte sie in die Marstallstraße ein, die zum Neckar hinunter führte. Er hatte keine Ahnung, wohin sie ihn lotste, doch weit konnte die Reise nicht mehr gehen. Kurz bevor sie die Straße erreichten, die dem Fluss entlang lief, blieb sie vor einer hohen Mauer stehen, die von einem runden Turm aus grob behauenen Steinquadern abgeschlossen wurde.
    »Der Marstall. Hier werden wir essen«, sagte sie und zeigte auf das Mauerwerk. Bevor er fragen konnte, begann sie zu erklären: »Marstall bedeutet eigentlich Zeughaus. Die Mauer und der Turm hier gehören zu einer ehemaligen Lagerhalle der Armee. Es ist eines der wenigen noch erhaltenen Gebäude aus dem Spätmittelalter in Heidelberg. Heutzutage finden hier Veranstaltungen statt, es gibt Büros des Studentenwerks und eine schöne moderne Mensa im Erdgeschoss.« Der Ort schien ihm zu gefallen. Nach kurzer Kunstpause fügte sie spöttisch hinzu: »Sie werden in einem fast fünfhundert Jahre alten Gemäuer inmitten junger Studentinnen essen.«
    »Als ob ich das nötig hätte, in Ihrer Gesellschaft.«
    Sie lachte, packte ihn am Arm und führte ihn durch den Torbogen in den weiten Innenhof des Gebäudekomplexes. Kyle folgte mit etwas gemischten Gefühlen. Eine Studentenkantine, Studentenfutter? Er erinnerte sich nur ungern an den undefinierbaren Brei, mit dem er sich jahrelang, von grellem Neonlicht geblendet, in lauten Massenfütterungsanstalten vom Charme einer Waschküche ernährt hatte. Die Holztische unter den Bäumen im Hof deuteten allerdings auf eine andere Art von Speiselokal hin.
    »Ein Biergarten. Sieht schon mal ganz einladend aus«, bemerkte er erfreut.
    »Es kommt noch besser. Wir essen drinnen. Sie werden bald sehen, weshalb.« Was sie in diesem mittelalterlichen Gemäuer erwartete verschlug Kyle den Atem. In das von hohen Spitzbogen dominierte wuchtige Gewölbe hatte mit großen Glasflächen, edlem Schieferboden, Holzplanken und roten Fliesen packende moderne Architektur Einzug gehalten. Ein langer Tresen mit futuristischem Galerieaufbau wirkte wie die Kommandobrücke eines imaginären Raumschiffs. Der Gegensatz zwischen mittelalterlicher Bausubstanz und modernster Ausstattung erzeugte eine Spannung, die Kyle sofort gefangen nahm. Der riesige Raum war in warmes, helles Terracotta-oranges Licht getaucht, das sich jedoch bald in das frische Grün einer karibischen Lagune verwandelte.
    »Die Lichtinstallation hat wahrscheinlich mehr gekostet als die Einrichtung«, bemerkte Heike schmunzelnd. Sie hatte sich nicht getäuscht; der Engländer schien von ihrer Wahl des Lokals angemessen

Weitere Kostenlose Bücher