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Nebenwirkungen (German Edition)

Nebenwirkungen (German Edition)

Titel: Nebenwirkungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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voll Tabletten.
    Einige Tage Bettruhe hatte sie ihm als wichtigste Maßnahme verordnet, und die hatte er nun seiner Meinung nach hinter sich. Jedenfalls war der unausstehliche Husten abgeklungen und sein Appetit kehrte langsam zurück, also hielt ihn nichts mehr zuhause. Er genoss seine erste Fahrt in der überfüllten Tube seit fast einem Monat. Noch nie hatte er sich um die Mitreisenden gekümmert, hatte stets blind und taub seine Strecke im rumpelnden, nach heißem Schmierfett, Rost und Chicken Curry stinkenden Wagen abgesessen, oder besser gestanden, doch heute beobachtete er belustigt, wie die anderen Passagiere litten.
     
    This is Oxford Circus. Please change here for the Central Line and Bakerloo Line.
     
    Die Ankündigung riss ihn aus seinem Tagtraum. Niemals zuvor in all den Jahren hatte er seine Umsteigestation verpasst. Egal, heute erwartete ihn sowieso niemand in der Redaktion. Sam würde auch um zehn noch große Augen machen, wenn er unerwartet aufkreuzte. Umständlich fuhr er wieder nach Süden zur Green Park Station zurück und wechselte dort mit einer halben Stunde Verspätung zur Jubilee Line Richtung Canary Wharf. Als er den Aufzug des Presseturms betrat, wunderte er sich, dass sich die Kabine nicht sogleich in Bewegung setzte. Im zehnten oder elften Stock stieg ein junger Mann zu und fragte:
    »Welches Stockwerk?« Kyle sah ihn verständnislos an, bis er bemerkte, dass er gar keine Taste gedrückt hatte. Überrumpelt von der banalen Frage musste er sich einen Augenblick konzentrieren, bis er stockend antworteten konnte:
    »Zwan... Zweiundzwanzig. Entschuldigung.« Was war los mit ihm? Schon zum zweiten Mal an diesem Morgen hatte er Mühe mit einfachen Handlungen, die sonst völlig automatisch abliefen. Vielleicht war es doch keine gute Idee, bereits wieder zur Arbeit zu erscheinen.
    Das Büro war leer. Die Kollegen mussten in der Konferenz sein, und er wollte sie nicht stören, heute nicht. Er wollte ihre blöden Gesichter sehen, wenn sie ihn nach der Sitzung an seinem Arbeitsplatz antrafen, also setzte er sich auf den Drehstuhl und wartete. Sie enttäuschten ihn nicht. Samantha ging zielstrebig zu ihrem Eckbüro, ohne ihn zu bemerken. Erst der Ruf Bastiens ließ sie innehalten.
    »Sam, siehst du auch, was ich sehe?«
    »Habe ich mich auch schon gefragt«, kam ihre Antwort wie aus der Pistole geschossen, doch sie drehte sich um und entdeckte den breit grinsenden Kyle an seinem Schreibtisch. Ein warmes, frohes Lächeln huschte über ihr Gesicht, das ganz und gar nicht zum strengen Ton passte, mit dem sie ihn in ihrer unnachahmlichen Art begrüßte: »Du solltest im Bett sein.«
    »Schlafen kann ich hier ebenso gut.« Samantha war wieder die Alte und Kyles Welt im Lot. Er fühlte sich großartig. Mit einem Pappbecher starken Kaffees in der Linken und seiner Beute aus Botswana unter dem Arm trat er ins Glashaus seiner Chefin. ›Debriefing‹ nannte sie das anstrengende Verhör, das nun folgte. Über eine Stunde saß Kyle in ihrem Büro und berichtete haarklein über jedes Detail seiner Mission. Endlich lehnte sich Samantha befriedigt zurück und sagte:
    »Ich sterbe vor Hunger.«
    »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe eine unbändige Lust auf saftige Pizza Diavola. Soll ich den Pizzablitz anrufen?« Samantha blickte ihn kopfschüttelnd an und antwortete spöttisch:
    »Ist das deine Vorstellung von der Rückkehr in die Zivilisation? Aber Pizza ist in Ordnung. Zur Feier deiner Auferstehung lade ich dich ins Scu-zi ein, O. K.?« Keine Frage, heute war Kyles Glückstag, denn Samanthas persönliche Einladungen waren so selten wie fröhliche Pendler in der Tube. Sie gingen die kurze Entfernung zum Restaurant am West India Dock zu Fuß.
    »Wo willst du hin?«, fragte Samantha irritiert, als Kyle am Cabot Square geradeaus weiter ging. » Warst du zu lange weg? Hast du schon vergessen, wo die Kneipe liegt? Hier rechts geht's zur Brücke.« Sie überquerten die elegant geschwungene, gelb gestrichene Green Bridge und setzten sich an den reservierten Tisch an einer der alten Backsteinwände im Restaurant. Samantha war keine Unbekannte in diesem Lokal, denn sie liebte die spektakuläre Aussicht auf das Dock, wo die alten Kähne unter den schwerfälligen Industriekränen im ruhigen, aquamarin schimmernden Wasser schlummerten, umrahmt von den filigranen, futuristischen Stahl- und Glaskonstruktionen der Büro- und Hoteltürme.
    »Hallo Sam, Kyle, wieder mal Zeit für anständiges Futter?«, rief ein

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