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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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»Wie wär's mit einer Räuberleiter?«, sagte Hannah und lächelte. »Vorausgesetzt, du trägst das Gewicht von zwei Frauen.« Karl gab ein abfälliges Schnauben von sich. Er ging an die Wand, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und faltete die Hände. Cynthia kletterte auf seine Schulter und griff nach oben. Es gelang ihr gerade so, die Kante der Öffnung zu erreichen. Sich mit beiden Händen festhaltend, rief sie: »Jetzt du.« Hannah gab Karl eine der beiden Fackeln, stieg erst auf den Sarkophag und anschließend auf seine Schultern. Dann begann sie über Cynthias Rücken nach oben zu klettern. Nach einer wackeligen Hängepartie, bei der sie mehr als einmal glaubte, Karl würde unter ihnen zusammenbrechen, war sie oben angelangt. Sie ließ sich die Fackel nach oben reichen. »Kannst du etwas erkennen?«, keuchte Cynthia unter ihr. »Der Schacht scheint frei zu sein«, sagte Hannah. Sie leuchtete so weit in den Gang hinein, wie sie nur konnte. »Kein Geröll oder sonstige Barrikaden. Ich mach mich dann mal auf den Weg. Drückt mir die Daumen.« Mit einer letzten Anstrengung zog sie sich hoch und kroch in den Schacht. Der Gang war so eng, dass sie gerade hineinpasste. Die Fackel flackerte nervös, als Hannah sich Meter um Meter nach vorn schob. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Nicht auszudenken, was geschah, wenn sie erlosch. Sie hatte weder Streichhölzer noch ein Feuerzeug dabei, von einer Taschenlampe ganz zu schweigen. Die hatte man ihnen bei ihrer Gefangennahme abgenommen.
    Während sie vorwärtskroch, ging sie in Gedanken noch einmal die letzten Tage durch. Man hatte ihnen wirklich übel mitgespielt. Wie übel, das wurde ihr erst jetzt in diesem miesen kleinen Gang bewusst. Was für ein perfider Plan, um an die Scheibe zu gelangen. Alles war inszeniert gewesen, von dem Moment an, als Michael ihr in der Buchhandlung aufgelauert hatte. Der Abend im Schloss, die Wanderung, selbst ihre Liebesnacht. Wie konnte er ernsthaft hoffen, dass sie sich auf seine Seite schlagen würde, nachdem er sie so belogen und betrogen hatte? Nur Menschen mit schwerer seelischer Schieflage können glauben, dass Macht alles bedeute. Wie waren doch seine Worte gewesen? Jenseits des Schreckens liegt die Macht. Genau das hatte er gesagt. Überhaupt schien Macht das Schlüsselwort in dieser Auseinandersetzung zu sein. Etwas in diesen Worten brachte eine dunkle Saite in ihr zum Klingen. Etwas, das sie zuletzt gespürt hatte, als sie den Tempel in der Sahara entdeckt hatte. Damals war sie nur dank ihrer besonderen Fähigkeiten am Leben geblieben. Die Fähigkeit, den tieferen Sinn hinter den Dingen zu erkennen. Sie spürte, dass sie diese Kraft immer noch besaß. Was, wenn sie den Spruch auf sich selbst anwendete? Jenseits des Schreckens liegt die Macht. Ja, dachte sie, aber nicht nur die Macht, Böses zu tun, sondern auch Gutes.
    Der Schacht machte einen Knick und endete dann überraschend. Aber nicht an einem toten Ende, wie sie befürchtet hatte, sondern in einem grob behauenen Stollen, der tief in den Berg zu führen schien. Ein Ausgang. Sie atmete erleichtert auf. Sollte sie zurückkriechen und die beiden informieren? Nein, dachte sie. Cynthia und Karl würden es ohnehin nicht durch diesen engen Korridor schaffen. Sie musste einen anderen Weg finden. Die Fackel auf Kopfhöhe haltend, lief sie in gebückter Haltung weiter. Die Decke senkte sich an einigen Stellen auf unter einen Meter ab, so dass sie auf allen vieren kriechen musste. Eine zentimeterhohe Schmierschicht bedeckte den Boden. Sie wies keinerlei Fußabdrücke oder andere Spuren auf. Hier war seit ewigen Zeiten niemand mehr gewesen. Immer noch glaubte sie einen schwachen Luftzug wahrzunehmen, auch wenn die frische Luft langsam, aber sicher von dem Gestank nach alten Pilzen überdeckt wurde. Sie musste den Zugang zur Oberfläche finden. Die Fackel bereitete ihr Sorge. Die Flamme war merklich kleiner geworden. Ein Windstoß würde genügen, um sie vollends auszublasen. Die Aussicht, hier unten in völliger Finsternis eingesperrt zu sein, trieb sie unbarmherzig weiter. Je tiefer sie kam, umso stärker stank es nach Pilzen. Sie musste sich ungefähr auf der Höhe des unteren Eingangs befinden. Aber hier gab es keine Abzweigungen, keine Gabelungen, nichts. Der Gang führte stur geradeaus. Als sie an eine neue Engstelle geriet, rutschte sie aus. Sie fiel hin und landete mit ihrer Hand in einem faulig riechenden Myzel. Es war eines der Gewächse, die ihr schon auf dem Weg zur

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