Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
Derwent bei Workington ... Touristen auf fünfzig verschiedenen Strandpromenaden, und allesamt trugen sie Hüte mit der Aufschrift »Küss mich« ... Blackpool in Festbeleuchtung und der futuristische Stahlturm, angestrahlt wie ein grellbunter Leuchtturm, dessen schimmerndes Licht durch die regnerische Nacht tanzte. Und natürlich auch die Ostküste noch einmal: Whitley Bay, Seaton Carew und Redcar; Marske und Saltburn-by-the-Sea; Whitby und Robin Hood’s Bay. Doch es waren alles nur Klischeevorstellungen – irgendwie unwirkliche Bilder, Szenen, die an der Oberfläche seiner Erinnerung trieben, ohne dass er sie irgendwo festmachen konnte, so als sei er niemals dort gewesen! Doch das war unmöglich, denn er hatte diese Orte von seiner Liste gestrichen. Aber jedes Mal, wenn er versuchte, sich ein bestimmtes Ereignis oder einen bestimmten Ort ins Gedächtnis zu rufen, dann war da: nichts! Hin und wieder ertappte er sich sogar bei dem Gedanken: Da pfuscht jemand in meinem Geist herum!
Zuletzt gab er es auf. Sollten die Profis das erledigen. Allerdings schienen sie auch nicht mehr Glück zu haben als er. Nur, dass er sie bezahlen musste. Und wenn nicht der Necroscope persönlich, dann eben jemand anders.
Und er ließ so einige Leute dafür bezahlen, darunter die einflussreichsten Yakuza-»Familien« Japans, deren illegale Einkünfte so hoch waren, dass sie eine eigene Bank betrieben, mehrere potenziell gefährliche Ölpotentaten und ein tschechischer Waffenhersteller, der für seine Geschäfte mit Terroristen bekannt war. Bislang beliefen sich die Kosten auf zwanzig Millionen Pfund, beziehungsweise deren Gegenwert, und ein Ende war nicht abzusehen. Noch zwei, drei Monate, dann würde Harry seine Finanzen wieder aufbessern müssen. Und da es keinen Mangel an stinkreichen Schurken gab, sollte ihm dies nicht allzu schwerfallen ...
Doch allein der Gedanke an Schurkereien – schon das Wort, die bloße Vorstellung – rief ganz andere Gefühle in ihm wach. Zunächst einmal fühlte sich Harry selber wie ein Opfer; weshalb, vermochte er allerdings nicht zu sagen. Schlimmer, er kam sich auch noch niederträchtig vor. Und zwar nicht wegen seiner vielen Diebstähle – seine Aktivitäten zur Geldbeschaffung sah er eher als Spendensammeln an und sich selbst als eine Art modernen Robin Hood. Nein, es lag an seinem Seitensprung. Er fühlte sich schuldig.
Ganz gleich, wie oft er sich ins Gedächtnis rief, dass seine Frau, Brenda, ja ihn verlassen hatte, kam er sich doch wie der Übeltäter vor. Ja, als wäre er ein Tier. Bevor er B. J. begegnet war, hatte der Necroscope an Menschen niemals in der Kategorie von Tieren gedacht, nun hingegen schon. Und wenn er mit ihr zusammen war, war seine sexuelle Gier mit Sicherheit animalisch. Und die ihre ebenfalls! Liebe? Schon möglich, dass er sie liebte und sie ihn. Aber die Wildheit, mit der sie sich liebten! Harry redete sich ein, dass er verzweifelt etwas nachholen, sich etwas zurückerobern wollte, das ihm genommen worden war, und sei es auch nur durch die Umstände. Gleichzeitig jedoch musste er sich eingestehen, dass er nie zuvor eine solche Faszination empfunden hatte. B. J. war zweifellos faszinierend!
Und wie sah es mit ihr aus? Was hatte sie davon? Bloße Lust? Am Anfang vielleicht, doch nun hatte Harry den Eindruck, dass es tiefer ging. Um wie viel tiefer? Was, wenn er jetzt Brenda fände? Was, wenn sie es sich anders überlegte und beschloss zurückzukehren und mit einem Mal vor ihm stehen würde? Wo würde B. J. da noch hineinpassen? Wollte er Brenda überhaupt wiederhaben?
So drehte sein Schuldkomplex – falls es denn einer war – sich im Kreis. Und verstärkte nur die Vorstellung, er sei ein brünftiges Tier, das nur die Erfüllung seiner eigenen Lust kannte. Vielleicht erklärte dies auch seine Träume ...
Harrys Träume – insbesondere seine Albträume – waren schon immer sehr vielschichtig gewesen, doch noch nie so verworren wie jetzt. Er konnte sich zwar nie so recht erinnern, worum es eigentlich ging, doch stets spielten Tiere dabei eine Rolle. Vor allem der Wolfsfetisch (zweifelsohne hervorgerufen von den Ereignissen in London vor fast drei Jahren) kam immer wieder vor.
In der Regel träumte er von B. J., für gewöhnlich, wenn er allein war; der Albtraum begann, wenn sie in seinen Armen lag und ihm in die Augen blickte. Dann erhob sich jedes Mal der Mond über dem Fenstersims und schien ihr direkt in die Augen – die sich daraufhin verwandelten ...
... von
Weitere Kostenlose Bücher