Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
schiefen Grabsteine schweifen und weiter die weißen, kiesbestreuten Wege entlang, die sich zwischen den grauen Grabreihen hinzogen, bis zu der hohen Steinmauer, die den Friedhof begrenzte. Dahinter zeichnete sich in der Ferne ein Hügel vor dem rauchigen Abendhimmel ab, auf dem sich eine Ansammlung von Häusern dicht zusammendrängte, in denen gerade die ersten Lichter angingen. Der Friedhof war ziemlich abgelegen. Von fern drang, leise wie das Flüstern einer Geisterstimme, das Rauschen des Verkehrs durch die klamme Luft hierher. Es war Ende Februar und das Wetter so mies, wie es nur in London sein konnte. Andererseits musste Harry sich eingestehen, dass es hier wirklich friedlich war. Nun ja, für ihn zumindest ...
Allerdings spürte er den Schmerz und die Trauer der Toten, darunter auch Banks’. Harrys Entschluss stand fest: Er würde Jim Banks rächen. Denn allein die zahllosen Toten – und der einzige Mensch, der mit ihnen zu sprechen vermochte – wussten den Wert des Lebens wirklich zu schätzen und hatten einen Begriff davon, wie schrecklich es war, es jemandem zu nehmen.
Sofern Harry seine Gedanken nicht gerade abschirmte, vernahmen die Toten sie ebenso, als hätte er sie laut ausgesprochen. Banks hatte alles mitbekommen und warf rasch ein: Dieser verrückte Drecksack hat es mir nicht einfach genommen, Harry! Wenn du meinst, dass er dabei hinterrücks vorging, nun ja, das schon. Aber das war nicht alles. Er war unglaublich stark, aber auch furchtbar schnell und regelrecht wütend. Irgendetwas drang in meine Brust ein wie die Zinken einer Heugabel und durchbohrte mein Herz und ich fiel tot um!
»Willst du mir zeigen, wie es geschah?« Aus Erfahrung wusste der Necroscope, dass es den Toten so oft leichter fiel. »Wenn du nicht darüber reden willst, kannst du es dir auch einfach ... vorstellen. Auf diese Art bekomme ich eher einen Geschmack davon.«
Geschmack? Banks’ körperlose Stimme klang mit einem Mal sauer. Wir reden hier nicht über Eiscreme, Harry!
»Entschuldigung, ich habe meine Worte falsch gewählt«, meinte Harry und verfluchte sich selbst dafür. Aber es war halb so wild. Banks würde alles tun, was er konnte, um seinen Mörder zur Strecke zu bringen.
Du willst ein Gefühl dafür bekommen, richtig? Du willst die ganze Atmosphäre auf dich wirken lassen?
»Nicht alles, nur die fragliche Nacht. Wie sie angefangen hat«, entgegnete Harry. Aber er vergaß, dass er mit einem ehemaligen Polizisten sprach.
Du solltest dir besser auch vor Augen führen, wie es dazu gekommen ist, erklärte ihm Banks. Harry nickte; ihm war bewusst, dass der schon lange verweste Tote in seinem Grab einen Meter achtzig tief unter der Erde dies spürte.
Denn ich werde das Gefühl nicht los, dass das Ganze in jener Nacht in diesem Pub anfing, als ich ins Leere lief. Die Spur, der ich folgte, verlor sich dort zwar, aber ich glaube, dass er da meine Witterung aufnahm! Wenn ich so zurückblicke, denke ich, ich habe einen ganz simplen Fehler begangen. Ich rechnete nicht damit, dass jemand auf Gewalt aus sein könnte, verstehst du? Ich verfolgte ein paar Autodiebe und nicht einen durchgeknallten, irren, mordgierigen Bastard! Deshalb war ich vielleicht ein bisschen ... unvorsichtig bei meinen Nachforschungen.
»Willst du damit sagen, du hast dich verraten?«
Der Necroscope hörte den Mann in seinem Grab aufseufzen. Ja, wahrscheinlich. Oder vielmehr ... ich weiß es.
»Wie denn? Ich meine, ich bin kein Polizist, Jim. Wenn ich weiß, womit du die Aufmerksamkeit auf dich gelenkt hast, kann ich es dir nachmachen und dafür sorgen, dass er sich auch für mich interessiert.«
Was? Du willst selber den Köder spielen? Keine Chance, Harry! Gott, ich wurde dafür ausgebildet und wusste, was auf mich zukam. Aber mit so einer Scheiße hätte ich nicht gerechnet! Du magst der Necroscope sein, okay. Aber eben hast du selbst zugegeben, dass du kein James Bond bist. Und du bist mit Sicherheit auch nicht Muhammad Ali!
»Nein, das nicht, aber ich habe ziemlich viele ... Freunde? Du weißt, was ich damit sagen will, Jim! Ich bin niemals allein, und ich bin mir auch nicht zu schade, gute Ratschläge von denjenigen anzunehmen, die vor mir lebten. Glaub’ mir, ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen!«
Tatsächlich? Das konnte ich auch, wenigstens dachte ich das! Banks hatte sich mittlerweile wieder etwas beruhigt, trotzdem klang er verbittert und wütend ... und zwar keineswegs auf Harry, sondern auf sich selbst. Harry war
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