Neferets Fluch ( House of Night Novelle )
der gesamten Gesellschaft Chicagos bei meinem Vater um meine Hand anhalten. Vater wird sich nicht der Blamage aussetzen, eine solch großartige, glänzende Partie auszuschlagen. Danach muss ich nur weiter daran arbeiten, Arthur zu einer frühen Heirat zu drängen, und alles wird gut werden.
Die Kälte in mir kommt nur von Vaters monströsen, unnatürlichen Begierden. Bin ich erst frei von Vater, so werde ich auch wieder frei sein, zu lieben und zu leben.
Etwas anderes darf ich nicht glauben.
1. Mai 1893
Emily Wheilers Aufzeichnungen
Am heutigen Abend des ersten Mai im Jahre 1893 hat sich mein Leben unwiderruflich verändert. Nein – nicht nur mein Leben, sondern meine ganze Welt. Mir ist, als sei ich gestorben und wieder auferstanden. Wahrlich, einen besseren Vergleich gibt es nicht. Heute Abend wurde meine Unschuld ermordet, und mit ihr starben mein Körper, meine Vergangenheit, mein Leben. Doch wie ein Phönix habe ich mich aus der Asche von Qual, Erniedrigung und Verzweiflung erhoben. Und ich fliege!
Zwar werde ich all diese schrecklichen und wundersamen Ereignisse zur Gänze niederschreiben, doch ich denke, ich sollte diese Aufzeichnungen nicht weiterführen und sie vernichten. Ich darf kein Zeugnis dulden, das eine Schwäche offenbart. Mein neues Leben muss gänzlich unter meiner Kontrolle sein.
Doch zur Stunde finde ich Trost darin, meine Geschichte noch einmal in mir aufleben zu lassen, fast so, wie ich einst Trost in den schützenden Schatten meines Gartens, unter meiner Weide fand.
Ich vermisse sie bereits. Doch da ich niemals wieder in meinen Garten zu meinen treuen Schatten zurückkehren kann, sind diese Aufzeichnungen aller Trost, der mir bleibt. Und sie trösten mich wahrhaftig. Obgleich ich die Flammen der Hölle durchquert und ihren Dämonen ins Auge geblickt habe, zittern meine Hände nicht, noch versagen mir die Worte.
Ich will damit beginnen, wie ich spät am Vormittag des heutigen schicksalhaften Tages erwachte. Ein krampfartiger Hustenanfall war es, der mich weckte und aufrecht im Bett nach Luft ringen ließ. Sofort kam Mary in tiefer Sorge zu mir geeilt und begann meine Kissen aufzuschütteln.
»Kind! Wusste ich’s doch, dass Sie schon gestern nicht gut aussahen! Wenn jemand ein Fieber schon von Weitem riechen kann, dann ich. Lassen Sie mich den Doktor holen.«
»Nein!« Ich musste wieder husten, versuchte aber mit der Hand vor dem Mund, den Anfall zu ersticken. »Ich darf Vater nicht enttäuschen. Wenn er glaubt, ich sei wirklich krank und könne ihn heute Abend nicht begleiten, wird er zornig werden.«
»Aber Kind, Sie können nicht –«
»Wenn ich nicht mit ihm gehe, wird er die Ausstellungseröffnung und das Dinner im Club allein besuchen und betrunken und zornig nach Hause kommen. Du weißt doch, wie schrecklich er sein kann. Zwing mich nicht, mehr zu sagen, Mary.«
Mary senkte den Kopf und seufzte. »Ach, Kind. Ich weiß ja, dass er sich nicht mehr kennt, wenn er getrunken hat. Und dass er heute fest mit Ihnen rechnet.«
»Ich wurde von den bedeutendsten Damen Chicagos eingeladen«, erinnerte ich sie.
Sie nickte düster. »Ja, das weiß ich. Nun, dann gibt’s nur noch eines zu tun. Ich werde Ihnen den Kräutertee meiner Großmutter mit Zitrone, Honig und einem Löffel Irish Whiskey kochen. Wie sie immer sagte: ’s wird schon helfen, und wenn nicht, tut’s doch gut.«
Ich lächelte zu ihrer absichtlich übertrieben irischen Aussprache und brachte es fertig, nicht noch einmal zu husten, bis sie mein Zimmer verließ. Ich redete mir zu, dass ihr Tee mir schon helfen würde. Ich durfte nicht krank sein – ich war noch nie krank gewesen! Ich fragte mich, ob die Muße der vergangenen drei Tage, in denen ich viel geruht und mich krank gestellt hatte, um sowohl Vater als auch Arthur aus dem Weg zu gehen, nun erst wirkliche Krankheit über mich gebracht hatte.
Nein. Das war ein Hirngespinst. Ich fühlte mich nur etwas unwohl, wahrscheinlich wegen meiner angespannten Nerven. Der Druck des Wartens, Versteckspielens und Zweifelns war meiner Gesundheit einfach nicht bekommen.
Ich trank ausgiebig von dem Tee, den Mary brachte, und der Whiskey wärmte und beruhigte mich. Ich glaube, an diesem Punkt begann die Zeit unscharf zu werden, die Stunden ineinanderzufließen. Ich schien gerade erst die Augen geöffnet zu haben, als Mary mich schon in mein grünes Seidenkleid schlüpfen hieß. Als Nächstes saß ich vor dem kleinen Spiegel meines Frisiertisches und sah zu, wie Mary mir
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