Neferets Fluch ( House of Night Novelle )
das Haar machte. Wie hypnotisiert folgte ich den langen Bürstenstrichen. Als sie mein Haar zu einem kunstvollen Chignon hochstecken wollte, hielt ich sie auf.
»Nein. Kämme es mir nur aus dem Gesicht. Flechte eines von Mutters Samtbändern hinein, aber lass es ansonsten lose fallen.«
»Täubchen, das ist doch eine Mädchenfrisur! Sie aber sind eine Dame der Gesellschaft.«
»Ich bin keine Dame. Ich bin sechzehn Jahre alt. Ich bin weder Ehefrau noch Mutter. Wenigstens mein Haar soll widerspiegeln, wie alt ich wirklich bin.«
»Wie Sie wünschen, Miss Wheiler«, erwiderte sie respektvoll.
Als meine schlichte Coiffure beendet war, stand ich auf und betrachtete mich in meinem großen Wandspiegel.
Bei allem, was an diesem Abend noch geschah, werde ich niemals vergessen, wie traurig Mary blickte, als sie hinter mir stand und wir beide mein Spiegelbild betrachteten. Das smaragdgrüne Kleid passte mir wie angegossen. Es besaß keinen Schmuck oder Zierde außer der Wölbung meiner Brüste und den Formen meines Körpers und ließ kaum nackte Haut sehen – das Dekolleté war hoch und die Ärmel waren dreiviertellang. Doch seine Schlichtheit unterstrich nur meine weiblichen Reize. Einzig mein Haar verdeckte diese ein wenig, doch seine schwere Fülle war nicht weniger sinnlich als das Kleid.
»Sie sehen zauberhaft aus, mein Täubchen«, sagte Mary leise und presste die Lippen zusammen, während sie mich weiter ansah.
Das Fieber und der Whiskey hatten mein Gesicht gerötet. Mein Atem ging flach und rasselte in meiner Brust. »Zauberhaft«, wiederholte ich versonnen. »So würde ich mich nicht beschreiben.«
Da öffnete sich die Tür, und Vater kam herein, ein samtverkleidetes Schmuckkästchen in den Händen. Abrupt hielt er an und starrte mein Spiegelbild an.
»Lassen Sie uns allein, Mary«, befahl er.
Sie wollte gehen, doch ich packte sie am Handgelenk. »Mary muss bleiben, Vater. Wir sind noch nicht mit dem Ankleiden fertig.«
»Na gut. Aus dem Weg, Frau.« Er schob Mary weg und nahm ihren Platz hinter mir ein, während sie sich in die Zimmerecke zurückzog.
Seine Augen verbrannten mein Spiegelbild. Ich musste meine Hände mit Gewalt an den Seiten halten, um nicht instinktiv zu versuchen, sie schützend um den Leib zu schlingen.
»Du bist bildhübsch, meine Liebe. Bildhübsch.« Bei seinem schroffen Ton stellten sich mir die Härchen auf den Armen auf. »Ich habe dich die ganze Woche so wenig gesehen, weißt du. Ich habe schon fast vergessen, wie wunderschön du bist.«
»Ich war nicht ganz gesund, Vater«, sagte ich.
»Ah, aber heute siehst du gesund aus – kerngesund! Deine Wangen glühen so, dass ich glaube, du freust dich ebenso auf diesen Abend wie ich.«
»Ich würde diesen Abend um nichts in der Welt verpassen mögen«, sagte ich wahrheitsgemäß und kühl.
Er schmunzelte. »Nun, meine Liebe, ich habe hier etwas für dich. Ich weiß, du wirst sie ebenso stolz tragen wie deine Mutter vor dir.« Und er öffnete das Schmuckkästchen. Zum Vorschein kam Mutters edle dreifache Perlenkette. Er nahm sie aus dem Kästchen, das er sodann achtlos fallen ließ, legte sie mir um den Hals und ließ den großen smaragdbesetzten Verschluss zuschnappen. Mit heißen Händen zog er mein Haar darunter hervor, und die Kette blieb als schwerer dreifach schimmernder Wasserfall auf meiner Brust liegen.
Vorsichtig berührte ich die Perlen. Unter meiner warmen Haut fühlten sie sich sehr kalt an.
Vater legte mir schwer die Hände auf die Schultern. »Sie stehen dir. Genau wie deiner Mutter.«
Im Spiegel trafen sich unsere Augen. Ich verbarg sorgfältig meinen Ekel, doch als er weiter dort stehen blieb und mich anstarrte, ließ ich dem rasselnden Husten, den ich bisher unterdrückt hatte, freien Lauf. Ich schlug die Hand vor den Mund, glitt unter seinen Händen weg und eilte zu meinem Frisiertisch. Mit dem dort liegenden Spitzentaschentuch dämpfte ich den Rest des Anfalls und trank einen langen Zug von Marys Tee.
»Bist du etwa wirklich krank?«, fragte er eher verärgert als besorgt.
»Nein«, versicherte ich. »Nur ein Kratzen im Hals und meine Nerven, Vater. Heute ist ein wichtiger Tag.«
»Nun, dann beeil dich mit dem Ankleiden und komm herunter. Die Kutsche ist schon vorgefahren, und die Eröffnung der World’s Columbian Exposition ist leider nicht Kavalier genug, um auf säumige Damen zu warten!« Über seinen eigenen faden Witz lachend, verließ er das Zimmer und schlug die Tür gewaltsam hinter sich zu.
Ich
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