Nehmt Herrin diesen Kranz - Schacht, A: Nehmt Herrin diesen Kranz
Pater Henricus zu ihrem Lehrer bestimmt, der ihnen auf der einen Seite das vermittelte, was die Kirche als wünschenswertes Verhalten der Gläubigen ansah, und ihnen gleichzeitig auf seine gütige Art die Worte Gottes auslegte. Den regelmäßigen Besuch der Messe, die Gebete und die Beichte hatte sie immer als zu ihrem Leben zugehörig empfunden und oft auch ihre innere Ruhe darin gefunden.
Aber mit ihrem Glauben hatte das nicht sehr viel zu tun, und seit ihrem heutigen Gespräch mit Pater Henricus zweifelte sie auch wieder einmal daran, ob ein geweihter Geistlicher wirklich den Willen Gottes verkünden konnte. Konnte ein Priester durch die Trauformel und die Brautmesse tatsächlich den Segen Gottes über die Verbindung beschwören? Weder ihr Vater noch ihre Mutter hatten ein bedingungsloses Vertrauen in die Geistlichkeit; das hatte sie aus manchen Bemerkungen entnommen. Und die Korruptheit vieler kirchlicher Würdenträger war oft genug angeprangert worden.
John of Lynne hatte ebenfalls kein Vertrauen in den Klerus.
Er verehrte jedoch den Geistlichen Wycliffe, der für seine Landsleute die Bibel übersetzt hatte. Etwas, das die Priester gar nicht gerne sahen, weil es ihre Macht des Wissens minderte. Die gelehrte Beginenmeisterin Clara hatte einst ebenfalls Teile der Bibel übersetzt, und die Abschriften hatte ihre Mutter Almut ihr und Marian zu lesen gegeben. Manches davon erschien Alyss klug, manches unverständlich; einige Texte, die das Zusammenleben der Menschen regelten, sah sie ein, andere erschienen ihr mehr als unsinnig.
Was, wenn es wahr wäre, dass die Priester, die Bischöfe, ja selbst der Papst sich einfach nur anmaßten, Gottes Willen zu kennen und auszuführen? Derzeit gab es in Rom einen Papst und einen in Avignon – und dieser Zustand hielt schon geraume Zeit an. Konnte das Gottes Wille sein? Oder verbargen sich schnöde menschliche Machenschaften dahinter?
Alyss hielt in ihrer Wanderung inne und richtete ihren Blick gen Himmel, um nach dem Falken Ausschau zu halten. Er hatte sich weit nach oben geschraubt, ein kleiner Punkt nur unter den Wolken. Doch da war noch eine andere Veränderung eingetreten. In der Ferne sah sie einen spitzen schwarzen Pfeil sich durch das Rheintal nähern.
Die Wildgänse hatten sich aufgemacht, gen Süden zu ziehen.
Boten des Winters, der dunklen Zeit.
Es passte sich ihrer Stimmung an, die ebenfalls dunkel auf ihr lastete. Sie hatte mit Pater Henricus über den Pelzhändler Houwschild gesprochen, einen unfähigen Mann, der seine Fehler nicht einsehen wollte, die Schuld an seinem Versagen anderen gab. Aber genauso gut hätte sie von Arndt sprechen können. Auch er war nicht in der Lage, seine Geschäfte erfolgreich
abzuwickeln, weil er keinerlei Verständnis für kaufmännische Zusammenhänge hatte. Doch anders als Houwschild klagte er nicht, sondern versuchte, seine Fehler durch unredliches Handeln zu vertuschen. Er war ein Großmaul, ein Betrüger und ein von Grund auf bösartiger Mensch, dem es Freude bereitete, anderen Schmerzen zuzufügen.
Und diese Erkenntnis führte dazu, dass sich Alyss’ Gedanken in neue Bahnen bewegten. Houwschild war ein Esel und ein Jammerlappen, aber warum sollte er Kilian entführen und ihre Brautkrone stehlen lassen? Viel näher lag es, dass Arndt hinter dieser Untat steckte. Er hatte gesagt, dass er abreisen wollte – aber was, wenn er lediglich die Stadt verlassen hatte? Er wusste, dass sie Kilian gerne aufgenommen hatte und dass es für sie ein schmerzhaftes Erlebnis sein würde, wenn der Junge aus ihrer Obhut entführt wurde. Auch er hätte Ebby und Heini beauftragen können, sich Kilians zu bemächtigen und vor allem die Krone zu rauben. Die beiden Einbrüche zuvor mochten entweder nicht von den beiden Hausarmen durchgeführt worden sein oder dienten der Ablenkung. Was für ein teuflischer Plan – und so ganz im Sinne ihres Gatten! Er hatte sich draußen auf dem einsamen Feld am Perlenpfuhl die Krone übergeben lassen; was mit dem Jungen geschah, war ihm gleichgültig. Vermutlich hatte er den Dieben eine ausreichende Summe gezahlt, sodass sie außerhalb von Köln Unterschlupf fänden.
Alyss war nüchtern genug, sich dieses Vorgehen vorzustellen. Und nachdem sie die Ungeheuerlichkeit akzeptiert hatte, wurde ihr seltsamerweise leichter ums Herz.
Flügelrauschen erfüllte inzwischen die Luft, und die hohlen Schreie der Wildgänse hallten unter dem tief hängenden
Himmel. Mehr und mehr versammelten sich über ihr. Die
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