Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
stattdessen, warum der eine Leibwächter abgebogen war. Hatte er einen eigenen Auftrag erhalten? Davon war in der Wohnung mit keinem Wort die Rede gewesen. Hatten sie doch Verdacht geschöpft, dass sie observiert wurden? Oder war das Teil einer universalen antielektronischen Strategie, die ihm irgendwie bekannt vorkam? Wenn es sich nicht um eine private Besorgung handelte, wie besondere Zigaretten in einem bestimmten Laden zu kaufen, dann konnte es nur um Materialbeschaffung gehen. Und in diesem Fall gab es die Chance – quasi als Bonus –, dass sie von einem Lagerplatz erfahren würden. Den sie dann wiederum observieren konnten.
Er beobachtete, wie der grüne und der rote Punkt sich immer weiter voneinander entfernten. Der rote näherte sich der großen Durchfahrtsstraße Raadhuisstraat, während sich der grüne weiter in Richtung Zentrum bewegte und gerade die Herengracht überquerte. Navarro wechselte den Monitor und sah, wie Beyer und Söderstedt die Leiter vor den Schreibtisch stellten. Söderstedt holte einen Akkubohrer und den Tischstaubsauger aus seiner Tasche. Mit einer galanten Geste reichte er Jutta Beyer den Bohrer, die kopfschüttelnd die Leiter erklomm.
Der grüne Punkt überquerte in diesem Moment mit hoher Geschwindigkeit den wohl größten Platz Europas, den Dam, der zwischen dem Nationalmonument und dem königlichen Schloss liegt. Er schien sich auf den Stadtteil De Wallen zuzubewegen, besser bekannt als der Red Light District, der Rotlichtbezirk der Stadt.
Der rote Punkt hingegen wurde wesentlich langsamer, nachdem er den Westermarkt überquert und die Kirche Westerkerk passiert hatte, vor der das Homomonument wie ein spitzes Dreieck in die Keizersgracht ragte. Dann bog er in eine Seitenstraße, die zur Prinsengracht führte, und blieb dort unvermittelt stehen.
»Was ist los, Miriam?«, fragte Navarro.
Keine Antwort.
Er hakte nicht nach, da er wusste, dass es immer Gründe für eine Funkstille geben konnte.
Schließlich kam eine SMS von Hersheys Handy: »Stehe hinter dem Fleischschrank in einer Schlange vor einem Haus rechts auf der Prinsengracht. Kann nicht sprechen. Schlange vor was?«
Navarro musste die SMS zweimal lesen, um sie zu verstehen. Er zoomte den Ort, an dem der rote Punkt leuchtete, näher heran. Da wusste er Bescheid. Und wusste doch nichts. Die Schlange befand sich direkt vor dem Anne-Frank-Haus.
Er informierte Hershey darüber. Die starrte lange auf die Nachricht, nur wenige Schritte hinter dem Leibwächter stehend. Er verharrte in seinem viel zu dicken Jackett reglos in der Warteschlange.
Das Anne-Frank-Haus. Jenes Haus, in dem sich das jüdische Mädchen Anne Frank jahrelang in den Vierzigerjahren mit ihrer Familie versteckt hat, ehe sie verraten und ins Konzentrationslager deportiert wurden. Von acht Familienmitgliedern überlebte nur eines. Annes Vater, Anne nicht.
Aber das offenherzige Tagebuch des jungen Teenagers hatte überlebt. Die Zeugenaussage.
Es war Hershey vollkommen unverständlich, warum sich dieser Fleischschrank in die Schlange vor dem Anne-Frank-Haus gestellt hatte, einem der bestbesuchten Museen Amsterdams. Hershey schauderte, als ihre jüdischen Wurzeln ihr die Haare zu Berge stehen ließen. Der Sklavenhändler war ohne jeden Zweifel auf dem Weg in dieses Haus. Das hatte etwas Schockierendes. Aber sie beherrschte sich und wartete geduldig, stand reglos in der prallen Sonne und schwitzte fürchterlich.
Der grüne Punkt hingegen wurde immer schneller. Mit hoher Geschwindigkeit ging es in den Rotlichtbezirk mit seinen unzähligen Sexklubs. In dem einen oder anderen Fenster saß eine mehr oder weniger verwahrloste, halb nackte Frau, und Laima Balodis bemühte sich sehr um einen neutralen Gesichtsausdruck, während sie dem Bandenchef und dem zweiten Fleischschrank folgte: den Oudezijds Achterburgwal zwischen den Kanälen hinunter, vorbei am Haschmuseum, dem Sextheater Casa Rosso und schließlich dem fünfstöckigen Erotikmuseum. Plötzlich schwenkte der grüne Punkt ab und ging auf die andere Seite der Brücke – auf den großen Kirchplatz der Oude Kerk zu, deren Geschichte bis ins 13. Jahrhundert zurückreichte. Amsterdams ältestes Gebäude.
Unter anderen Umständen hätten diese Kontraste Balodis in großes Staunen versetzt, aber jetzt ging es darum, die beiden Rumänen nicht aus den Augen zu verlieren, die es allem Anschein nach sehr eilig hatten. Sie drängelten sich durch die Touristenströme die Kirchentreppen hinauf. Balodis seufzte.
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