Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
stolperte über eine auffällig hohe Türschwelle hinein in das geschichtsträchtige Hinterhaus. Dort drinnen herrschte eine Dunkelheit, die all die Jahrzehnte überdauert hatte. Nackte Glühbirnen beleuchteten den schmalen Gang, aber der Leibwächter war nirgendwo zu sehen.
Hershey befand sich quasi an einer Wegscheide: Sollte sie die steile Treppe nach oben nehmen oder in den nächsten Raum gehen? Schnell entschlossen stieg sie die ebenfalls sehr schmale Treppe hoch und kam in einen kalten unmöblierten, aber relativ großen Raum, der eventuell das Esszimmer gewesen war. Sie lief durch den Raum und sah sich um, so wachsam wie möglich und so touristisch wie nötig. In ihrer Hand lag das Handy, das alles andere war als ein Mobiltelefon.
Aber der Rumäne war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war er an der Treppe vorbeigegangen. Da entdeckte sie eine Holzleiter, die in einen hell erleuchteten Raum hinaufführte. Und plötzlich war sie in ihrer Kindheit. Dort oben befand sich der Dachboden, der einzige Ort, an den sich Anne Frank zurückziehen und allein sein konnte, um die zwei langen, schweren Jahre in dem beengten Hinterhaus auszuhalten. Von dort hatte man Aussicht über den Garten, die Kirche und den berühmten Anne-Frank-Baum, die Rosskastanie, die zum Symbol der Freiheit wurde.
Miriam Hershey blieb einen Augenblick versunken stehen. Einige Sekunden zu lang. Sie hätte sofort erkennen müssen, dass die Leiter mit einer dicken Plastikfolie umwickelt war, was das Betreten des Dachbodens unmöglich machte. Zehn wertvolle Sekunden verflossen, in denen sich der Leibwächter in Luft aufgelöst haben konnte.
Sie lief zurück, sprang, so schnell sie es wagte, die Treppenstufen hinunter und bog nach links in den ersten Stock des Hinterhauses. Sie durchquerte ein Schlafzimmer und stand dann in Annes Zimmer.
Annes Reich war winzig klein. Karg. Zwei Meter breit. Hier war alles entstanden, in diesem Zimmer, das sie sich mit einem Zahnarzt teilen musste, der sie wahnsinnig nervte und des Nachts die merkwürdigsten Geräusche von sich gab.
Hershey verlor erneut wertvolle Sekunden. Der Leibwächter war nicht mehr da. Während sie den falschen Entschluss gefasst und die Treppe genommen hatte, war er offenbar – nach Erledigung seines Auftrags – umgekehrt und hatte das Hinterhaus wieder durch die Tür im Bücherregal verlassen. Hershey verfluchte ihre Unaufmerksamkeit. Sie war doch verdammt noch mal ein Profi, wie konnte sie sich nur so von den Erinnerungen an die Vergangenheit überwältigen lassen.
Soeben drängte sie aus dem Zimmer, als sie ihn entdeckte. Er stand am Fenster des etwas größeren Schlafzimmers – und er war nicht allein. Neben ihm stand ein kleiner elegant gekleideter Mann, der einen wattierten Umschlag in der einen Hand hielt und mit der anderen etwas in seiner Hosentasche suchte. Sie wechselten ein paar Worte.
Hershey hatte keinen geeigneten Standort, um mit ihrem Richtmikrofon das Gespräch anzupeilen, die Touristen schoben und drängten sich an ihr vorbei, sie musste sich augenblicklich einen besseren suchen. Und sie durfte nichts von dem Gespräch verpassen, nicht die kleinste Silbe. Aber sie hatte keine Wahl. Sie musste einen kurzen Moment warten.
Sie kehrte zurück in Anne Franks Zimmer und schickte eine SMS an Navarro: »Leibwächter hat Mann getroffen, Gespräch folgt«. Dann steckte sie einen Hörer ins Ohr, versuchte, das Kabel zu verstecken, und nahm das Distanzmikrofon in die rechte, ihr richtiges Handy in die linke Hand. Jetzt musste sie noch auf den geeigneten Augenblick warten.
Etwa sieben, acht Sekunden später betraten zwei Frauen das Schlafzimmer, ihnen schloss sie sich an, drängelte ein bisschen – »Entschuldigen Sie, Verzeihung, mein Fehler« – und machte ein Foto von dem Raum mit den beiden sich leise unterhaltenden Männern.
Zum Glück gab es etwas an den Wänden zu sehen, es wäre mehr als merkwürdig gewesen, wenn sie nur die nackten Tapeten angestarrt hätte. Sie wandte den Männern den Rücken zu und versuchte das Mikrofon auszurichten. Endlich bekam sie ein Signal, schwach und ohne ein Wort zu verstehen. Aber für eine Aufzeichnung müsste es ausreichen.
Erst da begriff sie, was zwanzig Zentimeter vor ihr auf der Tapete zu sehen war. Bleistiftzeichen. Striche, Messungen.
Messungen, die angaben, wie die Kinder der Familie Frank gewachsen waren.
Da niemand den Anruf des Bandenchefs entgegennahm, konnte sich Laima Balodis in ihr Gebet in der Oude Kerk
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