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Nein! Ich geh nicht zum Seniorentreff! - Ironside, V: Nein! Ich geh nicht zum Seniorentreff! - The Virginia Monologues

Titel: Nein! Ich geh nicht zum Seniorentreff! - Ironside, V: Nein! Ich geh nicht zum Seniorentreff! - The Virginia Monologues Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Ironside
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meinem Hotelzimmer in die tausend Stockwerke unter mir befindliche Lobby hinabfuhr, hielt der Lift im sechshundertsten Stockwerk an und ein sehr alter, sehr adretter Herr in fleckenlosem weißem Leinenanzug mit einem verschnörkelten Spazierstock betrat den Lift. Er besaß dieses feine, fast durchscheinende weiße Haar, in dem man jeden Bürstenstrich sieht. Und auf seiner Krawatte war kein Eigelb! Ich spielte schon (fast) mit dem Gedanken, dass ich nichts dagegen hätte, ein paar Enkelkinder mit ihm zu zeugen. W ir fuhren ein paar Sekunden schweigend weiter nach unten, dann schaute er mich plötzlich stolz an und krächzte mit dünnem Stimmchen: » Ich bin achtundneunzig, wissen Sie.«
    Also, wenn einer meiner Enkelsöhne damit prahlt, er sei schon viereinhalb, dann kann ich das ja verstehen, aber ein erwachsener Mann? W omöglich hat dieser arme alte Herr den lieben langen Tag nichts anderes zu tun, als achtundneunzig zu sein. Und was erwartete er von mir? W as sollte ich sagen? » Ach, wie schön!« Oder ehrlicher: » Sie A rmer! Hoffentlich müssen Sie nicht mehr allzu lange leben. A ber keine Sorge, bald haben Sie’s hinter sich.«
    Dieser Stolz auf ein hohes A lter findet sich übrigens überall. Sogar der Mann, der in der Moschee in unserem Stadtviertel aushilft, hat mich kürzlich beiseitegezogen und mir ins Ohr geflüstert: » Ich bin schon neunundachtzig!« A ber er besaß zumindest so viel V erstand hinzuzufügen: » Das A lter ist höchst ungnädig.«
    In Miami findet man die ältesten alten Leute, die ich je gesehen habe. Man sieht dort erschreckend wächserne, geliftete Gesichter auf gebrechlichen, gebeugten, runzligen Körpern. Ich kann mir vorstellen, dass diese Mumien sich mit 150 noch einreden werden, dass dies » das neue 130 « sei.
    Ich habe in A merika vor Seniorengruppen V orträge gehalten. V om Podium sahen die uralten Leutchen vor mir wie ein Faltenmeer aus, drohten jeden Moment zu zerbröseln (so schien es mir jedenfalls). Konnte es sein, dass sie eine dieser Longevity-Massages (so etwas wie » Langlebigkeits-Massage«) bekommen hatten, für die in meinem Hotel W erbung gemacht wurde? Das W ort Longevity erinnert mich an eine Streckbank, auf der man langsam in die Länge gezogen wird. Ich stieß dort in der Lobby auch auf ein Buch mit dem Titel: Longevity: 100 Tipps wie man 100 wird. Himmel hilf! W as ich brauche, ist ein Buch mit dem Titel » Wie Sie dafür sorgen können, dass mit spätestens 75 Schluss ist. 100 Tipps für einen raschen und schmerzlosen Tod«.
    Aber ich will nicht unfair sein. Die meisten Menschen, die ich kenne, sagen, sie haben weniger A ngst vor dem Tod als vor dem Sterben. W omit sie ganz recht haben, finde ich. Denn wer will schon halb blind, taub und/oder verwirrt durchs Leben tattern? Bei manchen Menschen ändert sich gar die Persönlichkeit. A lzheimerpatienten werden mitunter gewalttätig und attackieren jene, die sie ihr Leben lang geliebt und geschätzt haben. Das ist kein Leben. Für niemanden.
    Eine Bekannte von mir hing in den letzten Tagen ihres Lebens an einer dieser Maschinen, die einen nicht sterben lassen. Und obwohl keinerlei Hoffnung bestand, dass sie genesen würde, diskutierten A ngehörige und Ärzte tagelang darüber, ob man sie » vom A pparat nehmen solle« oder nicht. Gott sei Dank hat am Ende die V ernunft gesiegt, und die Frau wurde von ihren Leiden erlöst.
    Was die Menschen heutzutage alles durchmachen müssen, wenn es ums Sterben geht, ist schlimmer als das, was man Tieren zumutet– was nun aber nicht pauschal heißen soll, dass Tiere es grundsätzlich toll haben. A ls mein Kater todkrank war, ging ich mit ihm zum Tierarzt, um ihn einschläfern zu lassen, aber angesichts der modernen Geisteshaltung, die » das Recht auf Leben« so übertrieben groß schreibt, zauderte selbst der V eterinär. Schlussendlich musste ich meinen Kater wieder mitnehmen, und der A rme litt noch drei W ochen schreckliche Qualen, bis er eines Nachts beinahe krepierte. Ich rief den V eterinär-Notarzt, und dieser sagte mit einem tiefen Seufzer, dass ich jetzt » eine schwere Entscheidung treffen müsse«.
    » Die hab ich längst getroffen!«, kreischte ich, » Sie erlösen ihn jetzt sofort von seinen Leiden!«
    Wenn also die Rede davon ist, Menschen um jeden Preis am Leben zu erhalten, denke ich immer: Was soll die A ufregung? Ich habe bereits länger gelebt als die meisten Menschen vor hundert Jahren. Mit fünfundsechzig habe ich das Gefühl, auf Pump zu leben

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