Nein! Ich möchte keine Kaffeefahrt!
machen.
Plötzlich wünschte ich mir sehnsüchtig,Archie könnte bei mir sein. Er hätte das alles großartig gefunden und wäre von diesem Blick auf die Stadt ebenso gerührt gewesen wie ich. Und, so sentimental es sich auch anhören mag: Ich hatte das Gefühl, dassArchie tatsächlich bei mir war, und mir kamen dieTränen. Ich weinte nicht, weil ich traurig oder froh war, sondern aus Ergriffenheit über einfach alles. Ich kann dieses Gefühl nicht inWorte fassen.
Aber irgendwann schlief ich doch ein, und als ich wieder aufwachte, wurde der Himmel langsam hell. Etwa eine Stunde später krochen James und Ned aus dem Zelt und pfiffen.
» Alles okay? « , schrien sie.
» Alles gut « , rief ich den beiden winzigen Gestalten zu. » Ist wunderbar hier oben. «
» Um die Mittagszeit holen wir dich runter!Verkneif es dir noch ein paar Stunden! «
Zum Glück hatte ich schon Stunden vor demAufstieg nichts mehr getrunken und außerdem einAntidiuretikum geschluckt, das man mir vor fünf Jahren mal verschrieben hatte und das ich vernünftigerweise aufbewahrt hatte.
Um elf Uhr kamen die Leute von der Lokalzeitung und fotografierten, und erstaunlicherweise erschien sogar jemand vom » Hetzkurier « . Es gab wohl nicht genügend Katastrophen an diesemTag, denn normalerweise hätte sich ein überregionales Blatt nicht um so eine Bagatelle gekümmert.Aber offenbar arbeiteten sie an einer größeren Reportage darüber, wie sich Stadtregierungen über dieWünsche vonAnwohnern hinwegsetzen, und unserThema passte natürlich prima in diesen Zusammenhang.
Andere Nachbarn fanden sich zur Unterstützung ein– Mütter mit Kindern, die eigene Spruchbänder mitbrachten, Drogendealer, sogar der reizende Inder vom Eckladen, der mir von unten zuwinkte. Ned und James versorgten Journalisten und Fotografen mitTee und selbst gebackenem Kuchen. Sogar derAbgeordnete unseresViertels war da– der gehört natürlich einer anderen Partei an als der Stadtrat–, und ich musste aus erhabener Höhe ein paar gebrüllte Interviews geben. Dann verzogen sich die Presseleute wieder.
Ich harrte in meinem Horst aus und kam mir wie eine Baumnymphe vor– eine Baumnymphe mit furchtbarem Druck auf der Blase, muss ich hinzufügen–, und gegen eins kam Penny, um mich abzulösen.
Als ich herunterkletterte, gab es riesigenApplaus, und alle wollten mir gratulieren, aber ich musste so dringend pinkeln, dass ich erst einmal zum nächsten Haus rasen und umToilettenzugang bitten musste. Danach kehrte ich an den Ort des Geschehens zurück und fühlte mich– nun, wahrscheinlich wie die armeAnnie Noona auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs.
MehrereAnwohner wollten mich zur Feier desTages zumAbendessen einladen. Ich hatte keineAhnung, wie viele nette Leute hier wohnen. Leute, die ich noch nie gesehen hatte, kamen aus ihren Häusern und klopften mir anerkennend auf den Rücken, und sogar die Drogendealer klatschten mit mir ab. » Echt der Hammer, Schwester! « Sheila die Dealerin hielt beide Daumen hoch– ihr höchstes Lob–, und Pfarrer Emmanuel bestand darauf, hinzuknien und dem Herrn dafür zu danken, dass ich unversehrt wieder vom Baum heruntergekommen war. Muss gestehen, dass mir fast danach zu Mute war, es ihm gleichzutun.
Alice hatte mir eine Glitzerkarte gebastelt und ein Bild gemalt, auf dem ich oben auf dem Baum zu sehen war– so süß!–, und Brad und Sharmie luden alle Leute auf ein Glas Sekt zu sich ein, obwohl es erst Mittag war.
Weil ich auf dem Baum kaum etwas gegessen hatte, war ich natürlich nach ein paar Gläschen ordentlich angeschickert.
» Muss mich ausruhen « , sagte ich, als ich aufbrach. » Aber vielen lieben Dank! Hoffen wir, dass die Zeitungen uns beistehen! «
» Schlaf schön, Baumfee « , rief James mir nach.
Und das tat ich.
Dezember
1. Dezember
Louis hat eine SMS geschickt: » Du bist ein Star!Aber das wusste ich ja! Liebe Grüße. « (Diesmal sind die Grüße wieder rückläufig. Hm.)Tatsächlich war ich auf einer Innenseite des » Hetzkurier « im Baumwipfel zu sehen, mit der Bildunterschrift: » STARK WIE EIN BAUM ! RENTNERIN ALS ÖKOKRIEGERIN ! Exlehrerin steigt in schwindelnde Höhen auf, um die Kampagne des Kurier gegen Missachtung von Bürgern zu unterstützen! «
Im Rest desTextes wurde betont, dass der Stadtrat die Hotelpläne neu überdenken müsse, und berichtet, dass diverse Umweltorganisationen– die wir noch nicht kontaktiert hatten– jetzt auch auf die Barrikaden gingen. Fazit ist wohl, dass es schlecht
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