Nekropole (German Edition)
nachdem er Clemens so aufmerksam gemustert hatte, wie das in dem trüben Licht möglich war. Der angebliche Kratzer war eine klaffende Wunde, die sich quer über Clemens’ Stirn zog und so heftig blutete, dass er ununterbrochen blinzeln musste.
»Du meinst, für einen Mann meines Alters?«
Andrej hob verlegen die Schultern. Clemens sah ihn aus großen Augen an und fragte mit komischer Empörung: »Und das sagst ausgerechnet
du?«
Es funktionierte: Andrej musste gegen seinen Willen lachen. Clemens stimmte nicht in dieses Lachen ein, sondern bückte sich nach der Fackel, die er fallen gelassen hatte, und bedeutete ihm mit einem stummen Wink, sie zu entzünden. Andrej ging zu einem der anderen Männer und gehorchte, doch erst nach einem letzten Blick auf Clemens’ blutüberströmtes Gesicht.
Hastig sah er weg. Der Anblick und vor allem der verlockende Duft des frischen Blutes weckten eine düstere Begierde in ihm, der er unter keinen Umständen nachgeben durfte.
Wie durch ein Wunder schien abgesehen von zahllosen Schrammen und Kratzern und einigen mehr oder weniger schweren Prellungen niemand wirklich schwer verletzt zu sein. Die Halle hatte aufgehört zu schwanken, und von der Decke regneten auch keine Steine mehr. Der Staub begann sich zu legen, und bald hatte mit Ausnahme Kasims und des Mädchens jeder eine brennende Fackel in der Hand, deren rotes Licht sich vereinigte, um die Dunkelheit zurückzutreiben.
Was Andrej in diesem flackernden Schein jedoch sah, gefiel ihm ganz und gar nicht.
Der Torbogen war nicht einfach nur zusammengebrochen. Soweit er es erkennen konnte, war der Tunnel dahinter verschüttet. Tonnen um Tonnen Steine und Felstrümmer waren von der Decke gestürzt und hatten eine Lawine aus nachrutschendem Geröll und Erdreich ausgelöst, die nun eine unüberwindliche Barriere bildeten. Selbst ein ganzer Trupp gut ausgerüsteter Bauarbeiter würde Tage brauchen, um dieses Hindernis beiseitezuräumen … und vermutlich mit dem Ergebnis, dass dann auch noch der Rest der Decke herunterkam oder ihnen gleich die ganze Halle auf die Köpfe fiel.
»Dein neuer Freund hatte recht«, sagte Abu Dun, als er neben ihn trat. In der linken Hand hielt er eine Fackel, deren Licht ohne Erfolg versuchte, einen Durchlass in dem staubigen Chaos hinter den verbogenen Gitterstäben zu finden. Die eiserne linke Rechte lag scheinbar lose auf Aylas Schulter. Andrej versuchte vergeblich, ihren Blick einzufangen und fühlte sich schlecht. Er hatte dem Mädchen versprochen, es zu beschützen, und diese Aufgabe nicht annähernd so erfüllt, wie er es von sich selbst erwartete.
»Dass du es nicht schaffst?«
Abu Dun überging die Bemerkung. »Wer immer diese Falle gebaut hat, wusste, was er tat.« Er hob die Fackel höher und sah sich aus eng zusammengekniffenen Augen um.
»Aber immerhin haben wir ja noch …«, er nickte ein paarmal nach links und nach rechts, »… sieben Versuche übrig.«
»Acht«, erklang Alis Stimme hinter ihnen. »Wenn du alle Finger einer Hand nimmst und noch drei von der anderen dazu, ergibt das acht, Heide.«
»Nicht, wenn Kasim sie gebaut hat«, erwiderte Abu Dun gelassen. »Es kommt natürlich darauf an, mit welcher Hand du zu zählen beginnst, aber …«
»Still!«, unterbrach ihn Andrej. Er schloss die Augen.
»Aber es war doch nur ein Scherz, und …«
»Still, habe ich gesagt!«, zischte Andrej. »Hör doch!«
Tatsächlich hielt Abu Dun endlich die Klappe. Andrej lauschte angestrengt und versuchte, alle störenden Geräusche auszublenden. Es war nicht leicht, denn in der vermeintlichen Stille verbarg sich eine Unzahl Laute, die umso nachdrücklicher um Aufmerksamkeit buhlten, je mehr er sie zu ignorieren versuchte: Noch immer rieselte Staub von der Decke, kollerten Steine und knarrte und ächzte es, wenn sich die Trümmerberge setzten oder verrutschten. Dazu kam das Prasseln der Flammen, das Knistern des verbrennenden Holzes, die flüsternden Stimmen der Männer, ihre Atemzüge und all die kleinen unbewussten Geräusche, die sie verursachten, bis hin zu ihren Herzschlägen. Einige davon waren sehr schnell.
Aber da waren auch noch andere Laute, nicht einmal besonders versteckt, aber auf ihre Weise so vertraut, dass sie dadurch gleichermaßen unsichtbar wurden.
»Hörst du es?«, fragte er.
Nun lauschte auch Abu Dun angestrengt und nickte dann sehr heftig. »Jemand klopft. Ich vermute mal, mit einem Vorschlaghammer. Wir werden dieses lauschige Plätzchen nicht mehr lange für uns
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