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Nekropole (German Edition)

Nekropole (German Edition)

Titel: Nekropole (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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als einer Stunde noch war er ein atmender und fühlender Mensch gewesen, der ohne zu zögern sein Leben für seinen Herrn gegeben hätte und jetzt viel mehr als nur das verloren hatte. Nun war er noch um den Tod betrogen worden.
    »Bei Allah«, entfuhr es Abu Dun. »Diese Narren!
Nein! Rührt ihn nicht an!«
Die letzten vier Worte hatte er geschrien, doch der Anführer der Gardisten sah zwar stirnrunzelnd in ihre Richtung, schickte aber zwei Männer los und schloss sich ihnen sogar selbst an.
    »Geht nicht zu ihm!«, brüllte Abu Dun. »Haltet euch von ihm fern!«
    Zugleich stürzte er los, und Andrej folgte ihm, aber sie blieben abrupt wieder stehen, als die übrigen Gardisten ihre Waffen hoben und sie sich plötzlich einem ganzen Wald von Schwertern und nadelspitzen Hellebarden gegenübersahen.
    Es wäre ohnehin zu spät gewesen. Die Männer eilten mit raschen Schritten auf ihren toten Kameraden zu, doch ihre Schritte wurden langsamer, je näher sie ihm kamen. Vielleicht fünf oder sechs Schritte vor der torkelnden Gestalt blieben sie stehen, und obwohl Andrej ihre Gesichter nicht sehen konnte, merkte er ihnen ihr Entsetzen an.
    Er konnte es ihnen nicht verdenken. Er selbst hatte den Toten nur aus großer Höhe gesehen und praktisch ohne Licht, und selbst das war schon beinahe mehr gewesen, als er ertragen konnte. An der Gestalt war nichts Menschliches mehr. Obwohl erst seit Minuten tot, sah er aus wie ein Leichnam, der schon seit Wochen im Boden gelegen hatte und dem Verfall anheimgegeben worden war, und ganz wie Andrej es angenommen hatte, schien es kaum noch einen Knochen in seinem Leib zu geben, der nicht verdreht oder zerschmettert war. Weiße Splitter hatten die Haut an zahllosen Stellen durchstoßen und ragten nun wie die bizarren natürlichen Waffen eines Dämons in allen möglichen (und einigen unmöglichen) Winkeln aus seinem Leib, und sein Schädel war so deformiert, dass einer der Gardisten entsetzt zurückprallte und die Hand vor den Mund schlug, seine Übelkeit aber trotzdem nicht mehr beherrschen konnte. Wie es dem toten Mann gelungen war, aus dem tiefen Loch im Boden herauszukommen, war Andrej ein Rätsel, ebenso wie die Frage, wie er sich überhaupt noch bewegen konnte.
    »Rührt ihn nicht an!«, brüllte Abu Dun noch einmal. »Geht weg von ihm!«
    Seine Warnung wäre nicht mehr nötig gewesen. Ob gottesfürchtiger Christ oder Heide, jeder konnte sehen, dass er etwas gegenüberstand, das keinen Platz in der Schöpfung hatte. Die Kreatur torkelte und wankte auf die Männer zu, ohne sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, den Blick ihrer leeren Augen starr auf einen Punkt im Nichts gerichtet und eine glitzernde Spur aus halb geronnenem Blut und Schleim hinter sich herziehend, auf Gliedmaßen, die nach allen Gesetzen der Natur und der Logik gar nicht mehr in der Lage sein konnten, das Gewicht des zerschlagenen Körpers zu tragen. Aber was ihn antrieb, das war stärker als die Macht der Wirklichkeit.
    Einer der Gardisten war ein paar Schritte zur Seite gestolpert und auf die Knie gesunken, um den Inhalt seines Magens über den Hallenboden zu verteilen, ein anderer schien vor Entsetzen erstarrt zu sein, denn er stand reglos da und wäre von der grotesken Kreatur wahrscheinlich einfach über den Haufen gerannt worden, hätte sein Kamerad ihn nicht im letzten Moment zur Seite gerissen.
    Andrej meinte, den Verwesungsgestank, den die grässliche Gestalt verströmte, selbst über die große Entfernung hinweg wahrzunehmen, obwohl ihm sein Verstand sagte, dass das ganz und gar unmöglich war.
    »Geht weg!«, schrie Abu Dun zum dritten Mal. »Fasst ihn nicht an!«
    Seine Warnung bewirkte das Gegenteil. Einer der Gardisten nahm all seinen Mut zusammen, streckte den Arm aus und versuchte, den wandelnden Leichnam an der Schulter zu fassen, doch der griff plötzlich mit einer zerschmetterten Hand nach den Fingern des Soldaten, riss sie herum und biss sie ihm nur deshalb nicht mit einem Mal ab, weil sein Schädel und sein Kiefer zu sehr in Mitleidenschaft gezogen waren. Und endlich gewannen Furcht und die jahrelang antrainierten Reflexe der Männer wieder die Oberhand. Der Gardist riss seine Hand los und wich mit einer Mischung aus Schrei und Gurgeln zurück. Auch der Untote wankte rücklings, von gleich zwei Hellebarden durchbohrt.
    Nicht, dass es viel nutzte. Das morsche Fleisch setzte dem reißenden Stahl kaum noch Widerstand entgegen. Der linke Arm der Kreatur fiel einfach ab, und die zweite Hellebarde

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