Nele Paul - Roman
lange hatten warten lassen, sondern schleckte uns zur Begrüßung ab. Für ihn gab es nur die Gegenwart, und die hieß Wiedersehensfreude. Er war definitiv schlauer als ich.
Nele stieg in ihre Schuhe, und bevor wir auf brachen, schauten wir ein letztes Mal über den See, der unter uns lag wie ein glitzerndes Wellenballett. Lautlos kräuselten sich kleine Wellen auf der sonst spiegelblanken Oberfläche, und der Mond beleuchtete jedes Detail. Sie legte ihren Arm um meine Taille und kuschelte sich an mich. Ich legte meinen Arm um ihre Schulter und machte einen schlappen Witz darüber, dass ich ihr jetzt nicht noch mal nachspringen würde. Es klang fast aufrichtig.
Sie drehte ihren Kopf und sah mich an.
»Gibt es bei dir jemanden?«
»Ich dachte, wir reden nicht darüber.«
»Also nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
Statt zu antworten, sah sie wieder über das Wasser. Eine Wolke schob sich vor den Mond und löschte die Sterne auf dem See, als hätte man einen Vorhang zugezogen. Es wurde dunkel, und plötzlich spürten wir die Nacht auf der klammen Kleidung. Nele schüttelte sich.
»Mir ist kalt.«
»Nach Hause?«
»Au ja«, sagte sie und hängte sich bei mir ein.
Wir gingen den Pfad hinunter. Ohne den Mond war es stockduster. Außer unseren unsicheren Schritten und Novembers Pfoten auf dem sandigen Grund war nichts zu hören. Die Stille war überwältigend und die Finsternis wie eine Wand. In der klammen Sportkleidung waren wir der Nachtkühle hoffnungslos unterlegen. Wir hätten laufen sollen, doch man konnte kaum gehen, ohne auf die Nase zu fliegen. Alle paar Schritte stolperten wir. Nele drängte sich bibbernd an mich. Etwas Undefinierbares flatterte mir ins Gesicht, und ein Ast verpasste mir einen Kinnhaken, dennoch wüsste ich keinen Ort, an dem ich lieber gewesen wäre. Auf halber Strecke gabelte sich der Weg. Rechts ging es zurück zu den Höfen, doch sie bog nach links ins Gebüsch und zog mich an der Hand hinter sich her.
»Komm mit.«
»Wohin?«
»Komm.«
Ich ließ mich mitziehen, obwohl ich wusste, wo sie hinwollte und welche Überraschung sie dort erwartete. Früher waren wir oft hier entlanggegangen, doch mittlerweile war der Weg zugewuchert. Wir kauten an Zweigen, die uns ins Gesicht schlugen, und freuten uns über verstauchte Zehen. Ein Ast verpasste mir einen neuerlichen Kinnhaken, irgendwas klammerte sich an meine Hose, meine nackten Waden bekamen allerhand Brennnesseln und Dornen ab, aber Nelezog mich unbeirrt weiter durch Dickicht, Sträucher und Gestrüpp. Ihr so zu folgen, das Empfinden groß, das Denken auf Sparflamme, war ein weiterer dieser Augenblicke. In den paar Stunden, die sie wieder hier war, hatte ich mehr gefühlt als im ganzen letzten Jahr.
Nach fünf Minuten öffnete sich eine Fläche von etwa dreißig Metern Länge und zwanzig Metern Breite vor uns. Eine Landzunge führte schnurstracks in den See. Auf ihrer Spitze stand ein schnuckeliges kleines Ferienhaus.
Nele blieb schlagartig stehen.
»Das gibt’s doch nicht!«
Doch das gab’s. Die Minilandzunge war früher eine Partymeile für Jugendliche gewesen. Jetzt stand hier dieses einzelne Sommerhaus. Im Rahmen der Seesanierung hatte die Stadt vor Jahren beschlossen, das Gelände vollständig zu planieren. Wo einst ein verwinkelter Felsen gewesen war, der allerhand Nischen und Ruheplätze geboten hatte, stand nun dieses kleine Häuschen mit einem hübsch umzäunten Garten. Statt Kiffer und Verliebte hielten sich jetzt ehrbare Bürger hier auf. Die Strategie der Vertreibung.
Nele ging ein paar Schritte näher und schaute sich die Sache an.
»Seit wann steht das da?«
»Sieben Jahre?«
»Das können die doch nicht tun …!«
Sie versuchte, das Gartentor zu öffnen. Es war verschlossen. Sie stieg auf die unterste Sprosse und schwang sich darüber. Schon ging sie durch den Garten auf die Haustür zu.
»Was wird das denn?«
Statt zu antworten, blieb sie vor der Haustür stehen und drückte die Klinke. Die Tür blieb zu. Ich atmete erleichtert auf.
»Wäre ja auch sinnvoll, das Gartentor abzuschließen und die Haustür offen zu lassen. Komm, gehen wir.«
Sie ließ die Klinke los und drehte sich zu mir.
»Die können doch nicht den schönsten Platz der Gegend für ein einzelnes Haus opfern! Das ist unser Platz! Wir waren zuerst hier!«
»Falls du dich beschweren willst, kommst du zu spät. Es gab Demos und Proteste, aber wenn die Stadtverwaltung Geld riecht … Ist übrigens an den Bruder des Bürgermeisters
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