Nele Paul - Roman
durch die Frontscheibe den Hügel hoch.
»Trotzdem ist sie jetzt da oben und malocht mit Anita?«
Ich nickte. Rokko trat aufs Gas. Wir schossen schotterspritzend raus auf die Straße. Ich kurbelte das Fenster runter. Der Fahrtwind war irgendwie beruhigend. Rokko warf mir einen Blick zu.
»Hat er sie angegraben?«
»Sie hat einfach zu viel getrunken.«
»Mann, Telly in die Eier zu treten, wer würde das von Zeit zu Zeit nicht gerne tun? Aber sie muss doch einen Grund gehabt haben.«
»Weiß ich nicht. Und sie auch nicht. Sie hat einen kompletten Filmriss.«
»Okay, dann fragen wir Telly.«
»Nein. Ich frage Telly.«
Ich fingerte mein Handy aus der Hosentasche und wählte Mors Nummer. Wir steckten bereits im ersten Überholmanöver, als sie endlich ranging.
»Dachte schon, du rufst nie an, Schatz.«
»Wie geht es ihr?«
»Sie ist verkatert, die Sache ist ihr peinlich, sonst alles in Ordnung.«
»Lass sie nicht aus den Augen.«
»Mach ich nicht.«
»Ich mein’s ernst, Mor, lass sie nicht da oben allein.«
»Anita und die anderen sind auch hier, aber gut, ich bleibe bei ihr, bis du von der Arbeit kommst und mir erlaubst, mal auf die Toilette zu gehen. Gut so, Schatz?«
»Ich lach später.«
Ich küsste in den Hörer, unterbrach und wählte sofort Neles Nummer.
»Hey …«, meldete sie sich.
»Hey, wie läuft’s?«
»Alle schauen mich an, als hätte ich den Papst befummelt.« »Da musst du durch, ich sag nur: Dorftratsch. Aber keine Panik, in dreißig Jahren spricht da keiner mehr drüber.«
»O Gott«, stöhnte sie. »Die werden mich die Psychobraut nennen.«
»Nur, wenn du nicht dabei bist.«
Sie wimmerte. Ich zog Luft in die Lungen und sah aus dem Seitenfenster.
»Süße, ich hätte gerne, dass wir heute Abend zu Nissen rüberlaufen und du dich von ihm durchchecken lässt. Wäre das okay?«
Es blieb still, die Verbindung rauschte. Als sie sprach, war jede Ironie aus ihrer Stimme verschwunden.
»Ich muss ja gestern wirklich ’ne heiße Show abgeliefert haben.«
»Ich will nur wissen, ob du fit genug bist für ’ne lange Beziehung.«
War es möglich, ein stilles Lächeln zu hören? Wenn ja, war es das, was ich gerade tat.
»Paul?«
»Ja.«
»Ich liebe dich.«
Mein Herz stockte. Seit neun Jahren hatte ich diesen Satz nicht mehr aus ihrem Mund gehört. Zum ersten Mal an diesem Tag atmete ich richtig durch.
»Danke.«
»Wenn du dir wirklich solche Sorgen machst, gehen wir heute Abend zu Nissen und checken mich völlig durch, aber wenn er nichts findet, führst du mich zum Essen aus.«
»Damit du noch dicker wirst?«
Sie nannte mich einen Blödmann, wünschte mir einen schönen Tag und unterbrach das Gespräch.
Als ich das Handy wegsteckte, warf mir Rokko einen Blick zu, sagte aber nichts. Es gibt nichts über einen Freund, der weiß, wann er die Klappe halten soll.
Auf dem Revier war die Hölle los. Die Bande hatte wieder zugeschlagen. Sie hatten den abgelegenen Hof von Familie Bettermann ausgeraubt. Herr Bettermann, seinerzeit Rokkos und mein Lieblingslehrer, war in der Gegend sehr beliebt. Er hatte sich immer für seine Schüler engagiert, und jetzt lag er mit seiner Frau im Krankenhaus. Sie hatte Platzwunden und Brüche. Ihn hatte es noch schlimmer erwischt: Als die Bande seine Frau herumgeschubst hatte, hatte er vor Aufregung einen Herzanfall bekommen. Testosteron schwappte durch die Gänge. Adrenalin kochte. Aber noch immer fehlte uns jede Spur, obwohl die Bande definitiv von hier sein musste, denn sie hatte den Fluchtweg hinter dem Schrottplatz gewählt. Den kannte man nur, wenn man hier lebte oder gelebt hatte.
Als Hundt zur Einsatzbesprechung rief, losten wir, ich verlor. Rokko blieb im Kabuff, und ich ging in den Versammlungsraum. Der Raum war voll, ich wurde von allen Seiten angestarrt. Auf den Flurfunk war Verlass. Ich hielt vergeblich Ausschau nach der Neuen, dafür sah ich Telly. Er hatte eine Schramme unter dem Auge. Als er mich sah, hob er die Achseln. Karl-Heinz kniepte mir zu, ich winkte und setzte mich.Zusammengepfercht wie Schlachttiere ließen wir Hundts kalte Wut über uns ergehen, dabei brauchte er keinen von uns extra zu motivieren, denn jeder von uns wollte die Schweine erwischen. Und das würden wir auch. Irgendwann erwischte es jeden. Jeder Verbrecher wurde irgendwann übermütig oder hatte das Pech, zufällig bei einer von Hundts verrückten Straßenkontrollen einen Platten zu haben. Die meisten Verbrecher waren eh nicht die Hellsten und standen im
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