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Nele Paul - Roman

Titel: Nele Paul - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Birbaek
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Vor zweiundzwanzig Jahren war Neles Mutter eine von diesen Unglücklichen gewesen. Sie war die Treppe heruntergefallen und hatte sich das Genick gebrochen. Ich überflog den Unfallbericht, den Telly kurz und knapp verfasst hatte, sowie die Zeugenvernehmung von Hans. Er war abends vor dem Fernseher eingeschlafen und davon wach geworden, dass seine Tochter seinen Namen schrie. Er fand seine Frau leblos am Fuß der Treppe. Er wählte den Notruf, der konnte aber nur noch den Tod feststellen.
    Telly und ein Polizeihauptmeister Koppelmann wurden als Beamte am Unfallort aufgeführt, sonst brachte die Akte mir keine neuen Erkenntnisse. Aber Erinnerungen. Auf der Beerdigung standen Nele und ihr Vater ganz vorne am Grab. Ich werde nie vergessen, wie sie die Hand nach hinten ausstreckte und darauf wartete, dass ich sie nahm. Es war eine traurige Zeit gewesen. Ich erinnerte mich bruchstückhaftdaran, dass ich Nele in dieser Zeit weniger sah und dass sie dann stiller war, aber irgendwann begann sie wieder zu lachen, und alles, was heute an diese dunkle Phase erinnerte, waren die Albträume, die sie seitdem hatte.
    Als ich ins Kabuff kam und mich auf meinen Stuhl sinken ließ, hob Rokko den Kopf.
    »Was treibst du die ganze Zeit?«
    »Nachdenken.«
    »Und?«
    »Weiß nicht.«
    »Aha.«
    Ich stand wieder auf und ging zurück zum Empfang. Karl-Heinz hatte einen Fuß auf die Gala gelegt und eine Nagelschere in der Hand. Paris Hilton war mit weißen Halbmonden berieselt.
    »Mit wem fährt die Neue heute?«
    »Schröder.«
    »Schon wieder?«
    Er zuckte die Schultern und schoss Paris Hilton einen Fußnagel auf die Nase. Sie hatte dort schon Schlimmeres gehabt.
    »Die Jungs sind so blöde und pokern mit ihm um die Schichten. Ich wette, er bescheißt. So gut kann keiner …« Den Rest verpasste ich, weil ich ins Kabuff eilte und nach dem Funk griff. Ich verharrte mitten in der Bewegung. Über Funk konnte ich das nicht machen. Ich könnte natürlich warten, bis ich sie beim Laufen traf, aber ich musste endlich in die Gänge kommen. Ich schnappte mein Handy, ging in die Küche, suchte Schröders Namen im Verzeichnis und drückte drauf. Nach zweimal Klingeln ging er ran.
    »Schröder.«
    »Hier Paul. Du hast schon wieder Schicht mit der Neuen?« »Scheiße, was soll ich machen, sie liebt mich.«
    »Dann hast du bestimmt ihre Handynummer.«
    Es war einen Augenblick still.
    »Äh, noch nicht. Wozu auch, wir sehen uns ja ständig.«
    »Hol sie mir mal an den Hörer.«
    »Warum?«
    »Weil ich mit ihr sprechen will.«
    »Warum tust du es nicht über Sprechfunk?«
    »Wieso hältst du nicht einfach die Klappe und reichst dein verdammtes Handy weiter?«
    »Schon gut … Ich muss erst hingehen, sie kriecht noch durch Bettermanns Haus und sucht Haare und so ’nen Scheiß.«
    Ich hörte, wie er eine Tür öffnete und ausstieg. Ich sah das Bild vor mir: die Neue am Tatort, Schröder im Dienstwagen, eine Zeitschrift in der Hand und den Fußraum voller McDoof-Tüten.
    Geräusche, leise gemurmelte Erklärungen, dann eine Frauenstimme.
    »Mertens.«
    »Ich bin’s, Paul Hansen. Ich müsste Sie unter vier Augen sprechen.«
    »Ist gerade schlecht.«
    »Wäre wichtig.«
    Einen Augenblick blieb es still.
    »Auf dem Parkplatz. In zwanzig Minuten.«
    Sie unterbrach die Verbindung. Ich ging wieder ins Kabuff und setzte mich. Rokko musterte mich. Die Lichterkette blinkte, ich ging ran.
    »Polizeinotruf.«
    »Hallo, kommen Sie mal bitte zum Adenauer-Platz. Dort liegt einer.«
    »Was für einer?«
    »Ein alter Mann, der ist gestürzt.«
    »Ist er verletzt?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Dann fragen Sie ihn.«
    »Das kann ich nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Ja, ich bin doch mit dem Hund unterwegs«, entgegnete der Anrufer empört.
    Mein Nacken verspannte sich.
    »Und deswegen können Sie einen Menschen in Not nicht ansprechen?«
    »Also, wissen Sie, ich bin doch alleinstehend und mit dem Hund unterwegs. Das muss ich mir doch nicht antun.«
    Ich stand auf und erklärte ihm § 323c. Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Ich glaube, ich war laut.
    Der Anrufer legte auf. Ich gab die Fahrt raus und setzte mich. Rokko schaute mich an. Ich stand wieder auf und stellte mich ans Fenster. Die

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