Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nelson DeMille

Nelson DeMille

Titel: Nelson DeMille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das Vermächtnis
Vom Netzwerk:
sah ich, dass sie Tränen in den Augen hatte. John Whitman Sutter, Rechtsanwalt, der solche Arbeiten schon häufiger gemacht hatte, war vorbereitet und zog ein sauberes Taschentuch aus der Hosentasche und drückte es ihr in die Hand.
    Sie betupfte ihre Augen. »Tut mir leid.«
    »Ist schon gut. Ich hole dir ein Glas Wasser.« Ich stand auf und ging in die Küche.
    Wie schon gesagt, habe ich damit einst meinen Lebensunterhalt verdient. Die meiste Zeit war ich in der Stadt als Spitzenanwalt für Steuerrecht tätig, aber in meiner Kanzlei in Locus Valley war ich für Testamente, Nachlassverwaltung, Vorsorgevollmachten und dergleichen mehr zuständig. Die Hälfte meiner Mandanten waren reiche alte Jungfern und grantige alte Männer, die viel Zeit damit zubrachten, über die Leute nachzudenken, die sie in ihr Testament aufnahmen, bevor sie sie eine Woche später wieder enterbten. Manchmal kamen bei letzten Willenserklärungen, Testamenten und ähnlichen Papieren ein, zwei Familiengeheimnisse zum Vorschein - ein ins Heim eingewiesenes Geschwisterchen, ein uneheliches Kind, zwei Geliebte in Manhattan und so weiter und so fort. Ich lernte, so etwas mit professionellem Stoizismus zu handhaben, auch wenn ab und zu selbst ich schockiert, überrascht, betrübt und häufig amüsiert war.
    Ethel Allards Ehebruch war im Großen und Ganzen keine Riesenangelegenheit, zumal man bedenken musste, dass seither ein halbes Jahrhundert verstrichen war. Aber einem erwachsenen Kind versetzt es immer einen leichten Stich, wenn es herausfindet, dass Mama einen Geliebten hatte und Papa den Stenographinnen nachstieg.
    Jedenfalls war Elizabeth, geschieden, mit zwei erwachsenen Kindern, einem verstorbenen Vater und einer im Sterben liegenden Mutter, möglicherweise einsam und mit Sicherheit emotional aufgewühlt und daher verletzlich.
    Deshalb ... ließ ich ein Glas Leitungswasser ein. Deshalb sollte und würde heute Abend nichts vorfallen, das wir später bereuen oder weswegen wir am nächsten Morgen ein schlechtes Gewissen haben würden. Oder?
    Ich kehrte ins Esszimmer zurück und sah, dass sich Elizabeth wieder gefasst hatte. Ich reichte ihr das Wasser und schlug vor: »Legen wir eine Pause ein. Möchtest du einen Spaziergang machen?«
    »Ich möchte das hier hinter mich bringen. Ich komme schon damit klar.«
    »Okay.«
    Wir erledigten den unbedeutenden Papierkram, dann öffnete ich den Umschlag, der Ethels Testament enthielt. »Ich habe dieses Testament nach dem Tod deines Vaters errichtet«, sagte ich, »und wie ich sehe, ist es im Lauf der Jahre weitestgehend so geblieben.« Ich fuhr mit offiziellem Tonfall fort und fragte: »Hast du dieses Testament gelesen?«
    »Jawohl.«
    »Möchtest du dieses Testament noch mal mit ihr durchgehen?«
    »Ich möchte ihr an ihrem Sterbebett nicht ihr Testament vorlesen.«
    »Ich verstehe.« Und ich wollte nicht, dass Ethel die fünfhundert Dollar aufstockte, die sie St. Mark's hinterließ. »Ich behalte diese Kopie, bis es so weit ist.«
    Elizabeth nickte, dann sagte sie: »Sie hat dir nichts hinterlassen.« »Warum sollte sie?«
    »Wegen all dem, was du für sie und Dad getan hast.«
    »Das wenige, was ich getan habe, habe ich aus Freundschaft getan«, erwiderte ich. »Und deine Mutter hat sich revanchiert, indem sie mich meine Sachen in ihrem Haus einlagern ließ.« Auch wenn sie Miete von mir verlangt hatte, als ich vor zehn Jahren hier wohnte, und diese Miete gerade wieder geltend machte.
    »Das ist mir klar«, sagte Elizabeth. »Aber mir wäre wohler zumute, wenn von ihrem Nachlass ... ich bin die Vollstreckerin ... ein Honorar für dich bezahlt werden würde.«
    Ich fragte mich, ob Elizabeth dachte, ich brauchte das Geld. Ich konnte es gebrauchen, war aber nicht mittellos. Eigentlich hatte ich in London ein gutes Einkommen, doch leider hatte ich die amerikanische Angewohnheit, über meine Verhältnisse zu leben, nach London mitgebracht. Und zurzeit befand ich mich in einem längeren unbezahlten Sonderurlaub.
    Allerdings schien die Sache nun wieder besser auszusehen. Ich hatte ein Angebot von einem alteingesessenen amerikanischen Unternehmen. La Cosa Nostra.
    »Mir wäre wohler zumute, wenn du für deine Dienste bezahlt werden würdest«, sagte Elizabeth noch einmal.
    »Na schön«, erwiderte ich, »aber ich möchte mein Honorar in Form von Holzapfelgelee.«
    Sie lächelte. »Und das Essen heute Abend geht auf mich.«
    »Abgemacht.« Ich baute ein Dutzend Ordner vor ihr auf und sagte: »Nimm die mit und

Weitere Kostenlose Bücher