Nelson sucht das Glück
Berge schwebte in der Ferne. In all den Jahren seines Lebens hatte sich Nelson in der Nähe von menschlichen Siedlungen immer zu Hause gefühlt. Doch als der kleine Hund an diesem Morgen auf dem kalten Boden saß und die Welt mit seiner kundigen Nase erschnüffelte, war sein Gefühl den Menschen und ihrer Welt gegenüber zwiespältig. Einst hatte er sich dort sicher gefühlt, doch jetzt kamen ihm diese Gerüche in vielerlei Hinsicht bedrohlich vor.
Von jenseits der Menschenwelt lockten ihn die uralten, steinigen, würzigen Düfte der Berge, voller Frieden. Weit außerhalb der Stadt gab es reißende Flüsse mit frischem Wasser und voller Lachse. Da gab es endlose grüne Wälder, in denen der Geruch der Menschen nicht alles überlagerte, tiefen Schlamm und fruchtbaren Boden, der, wie Nelsons Nase ihm verriet, schon seit Urzeiten dort war. Da war Gras, üppig und schön, das Nelson betörte.
Auch Insekten roch er, Ameisen in ihrem Bau, und er roch Eidechsen und Schlangen, die sich durch das wilde Land bewegten. An diesem klaren Tag war seine Nase wie ein Fernglas. Und noch komplexer als der Geruch der Tiere, der sich in seiner Wahrnehmung einen Weg bahnte, war der Duft der Pflanzen und Blumen, die die Landschaft dort in der Ferne sprenkelten.
In der Nähe jedoch waren Menschen und ihre Häuser, Autos, Läden und Essen, dessen Duft Nelson bislang immer angezogen hatte. Und so sehr ihn die Düfte der Wildnis lockten, der Hund hatte sein Leben stets in menschlichen Siedlungen verbracht, und der Geruch der Nahrungsmittel in den Mülltonnen hielt ihn in den Randbezirken der Städte, an der Grenze zwischen menschlichem Leben und Wildnis, auf jenem grünen Streifen, nach dem die Wildnis ihre Krallen ausstreckte. Für den Hund war es ein seltsames Gefühl, in beide Richtungen gezogen zu werden. Das Trauma, das seine Zeit im Tierheim in ihm angerichtet hatte, hatte ihn zu einem verwirrten Tier gemacht, das nicht genau wusste, wo sein Platz in der Welt war und wo es sich wirklich zu Hause fühlte. In den Tagen nach seiner gelungenen Flucht aus der Tötungsstation lebte Nelson in einem ruhelosen Zwischenbereich, verstoßen aus der Menschenwelt, die er so liebte, und doch voller Furcht vor der Wildnis, die ihn lockte.
Ein oder zwei Mal nahm er in der Morgenluft die Witterung eines Kojoten auf. Es war eine Witterung, die in ihm sofort den Drang weckte, in die Sicherheit einer menschlichen Siedlung zurückzulaufen. Nur die Angst vor dem Heim hielt ihn davon ab, allzu weit in die menschlichen Siedlungen mit ihren Häusern, Straßen und ihrem Geruch nach bearbeitetem Holz zurückzukehren.
Einen Duft inmitten all der Fährten erkannte er jedoch. Er hatte ihn viele Male erschnuppert, wenn er mit dem Wind in die Straßen von Kalispell getragen wurde. Es war ein Geruch, der ihm einst Angst gemacht hatte, ein Geruch, der fremd und bedrohlich schien. Jetzt jedoch zog er ihn ebenso an, wie er ihn abstieß. Er war üppig und geheimnisvoll und gar nicht so anders als sein eigener Geruch. Ein wilder, uralter Duft. Es war der Geruch des Wolfes.
26
Die Wolfsmutter war traurig. Die Traurigkeit kam in Wellen, doch manchmal drohte sie sie zu überwältigen. Sie hatte die beiden Wolfsjungen aus ihrem Wurf nicht besonders gut gekannt, da sie nur drei Tage nach der Geburt verstorben waren. Vielleicht war also auch der Verlust nicht so stark, wie er es bei einem anderen Mitglied des Rudels gewesen wäre. Strömte eines der älteren Mitglieder des Rudels jenen gewissen Geruch aus, den Geruch, der den anderen sagte, ihr Gefährte würde sich schon bald hinlegen und nicht mehr jagen, nicht mehr töten und nicht mehr mit den anderen aus dem Rudel fressen, empfand die Wolfsmutter tiefe Trauer. Die Traurigkeit, die sie erfasst hatte, als sie ihre beiden Welpen verlor, war anders, und vielleicht wurde sie abgemildert durch die unmittelbare Notwendigkeit, sich um ihre anderen drei Neugeborenen zu kümmern. Sie verlangten ihr alles ab, mussten gesäugt werden. Ihr Körper produzierte gewaltige Mengen Milch für die Welpen, und sie selbst war immer hungrig, ständig verlangte es sie nach blutigem Fleisch, und jede Fährte eines kleineren Tieres in der Nähe, das sie leicht erlegen und fressen könnte, kitzelte sie in der Nase. Im Allgemeinen jagten Wölfe lieber bei Nacht, doch manchmal musste die Wolfsmutter in der Hoffnung auf irgendeine kleine, zusätzliche Mahlzeit, die ihren ständigen Heißhunger ein wenig stillen könnte, sogar tagsüber auf die Jagd
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