Nelson sucht das Glück
die Wolfsmutter im Allgemeinen aus dem Weg. Im Laufe der Jahre hatte sie mehrere Begegnungen mit ihnen gehabt. Einmal waren zwei bewaffnete Jäger, ohne es zu wissen, in das Wolfsrevier eingedrungen. Sie war mit gefletschten Zähnen auf sie zugesprungen, und die Männer hatten eines der großen Gewehre, das sie dabeihatten, abgefeuert.
Sie und der Wolfsvater suchten das Weite, waren jedoch nicht getroffen worden. Aus der Ferne hörte sie noch einen weiteren Schuss, und dann das laute Rascheln von Füßen, als die beiden Jäger aus Angst vor den Wölfen davonliefen. Diesen Vorfall hatte die Wolfsmutter nie vergessen.
Während Nelson wegen des Fressens immer in der menschlichen Siedlungen blieb, war es umgekehrt die Witterung von Nahrung, die auch die Wolfsmutter dazu veranlasste, sich an diesem Tag der Stadt zu nähern. Heute stand der Wind so, dass er der Wölfin ausgerechnet Fleischduft von einem Grillfest in die Nase wehte. Es war viele Kilometer entfernt, doch sie war so hungrig, dass sie sich aufrichtete und langsam auf die Quelle des Geruches zuging. Ihre Welpen folgten ihr, schnappten liebevoll nach ihren Fersen.
Als die Wölfin sich ganz allmählich der Stadt näherte, wusste sie nicht genau, was sie von dem Tier halten sollte, das etwa sechs Meter von der Straße entfernt in der Sonne lag und döste. Wäre der Rest des Rudels bei ihr gewesen, so hätte Nelson das Zusammentreffen mit der Wölfin und ihren Welpen wahrscheinlich nicht überlebt, denn in ihrem Wunsch, ihre Welpen zu beschützen, hätte der Wolfsvater oder einer der jüngeren Wölfe den Hund auf der Stelle getötet und wahrscheinlich gefressen. Für einen ausgewachsenen Wolf wäre Nelson mit Sicherheit leichte Beute gewesen.
Als die Wölfin Nelson zum ersten Mal sah, war auch ihr erster Impuls, ihn zu töten. Er war kein Mitglied des Rudels und hatte kein Recht, hier zu sein. Sie machte einen gewaltigen Satz vorwärts, landete etwa zwei Meter vor ihm und war bereit, ihn anzuspringen und ihm den Garaus zu machen. Sie knurrte, als sie Nelson in die Augen starrte. Direkt vor ihm blitzten ihre riesigen Schneidezähne, und ihre gewaltigen Kiefer schnappten nach ihm. Jeden Moment würde sie noch einmal springen und das kleine Tier töten.
Doch die Welpen hatten noch nicht gelernt zu töten, und ihr erster Impuls war es, Nelson als Spielgefährten zu betrachten. Bevor ihre Mutter den tödlichen letzten Satz auf den Hund zu machte, stupsten die Welpen ihn bereits an und beschnupperten ihn, so wie sie es mit ihresgleichen getan hätten. Die Wolfsmutter hielt einen Moment lang inne, zumal ihre Sinne durch ihre Erschöpfung etwas abgestumpft waren.
Die Witterung der Wölfe hatte schon die letzten ein oder zwei Stunden deutlich in der Luft gelegen. Etwas daran faszinierte Nelson, doch als die riesige graue Wölfin zum ersten Mal vor ihm stand, ergriff ihn eine Furcht, wie er sie noch nie empfunden hatte. Das Tier war riesig und wunderschön, doch er wusste, dass es ihn jeden Moment umbringen würde. Nelson erkannte, welche Kraft und Stärke in der Wölfin steckte, die da vor ihm stand. Einen Moment lang war er wie gelähmt, doch dann beschnüffelten ihn die Welpen, was ihm die Chance gab, zu reagieren. Voller Angst vor der Wolfsmutter rollte er sich auf den Rücken und bot ihr winselnd seine Kehle dar.
Als er vor ihr auf dem Boden lag, begriffen die Welpen seine Unterwerfung als eine weitere Aufforderung zum Spiel. Sie sprangen über Nelson hinweg, und er nahm ihre Einladung an. Die drei Wolfsjungen und der dreibeinige Hund rollten im Sand herum, bissen und schubsten sich spielerisch, spielten miteinander.
Die Mutter näherte sich dem Hund und beschnupperte ihn. Sie roch die Angst in seinen Poren, roch die Wunde an der Stelle, wo sich früher sein Bein befunden hatte. Sie gab ein leises Knurren von sich. Wie Nelson und andere seiner Art war auch der Wolf ein gefühlsbetontes Wesen, und plötzlich war die Trauer um ihre verlorenen Welpen wieder da. Sie schnüffelte an ihm, und auch wenn er kein Wolf war, so war er dem Wolf nicht unähnlich, und sie zog sich zurück. Außerdem wurde ihre Aufmerksamkeit von einem halb abgenagten Hähnchengerippe angezogen, das Nelson am Tag zuvor aus einem Mülleimer gezerrt hatte. Die Wölfin schnappte es sich und zog sich unter einen Busch zurück, um das Huhn zu fressen. Dann schloss sie die Augen und machte ein Nickerchen, froh darüber, sich ein paar Minuten von den Forderungen der Welpen nach Futter ausruhen zu
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