Nemesis 02 - Geisterstunde
noch nicht an die absolute Dunkelheit hier drinnen gewöhnt; ich konnte die sprichwörtliche Hand vor Augen nicht erkennen. Woher, bitte sehr, wusste ich, dass ich auf eine Treppe zusteuerte? Woher wusste ich, aus welchem Material sie bestand, noch bevor die ersten Stufen unter meinen Schuhen knarrten und meine Hand nach dem mit dezenten Schnitzereien versehenen hölzernen Geländer griff?
Woher wusste ich überhaupt, in welche Richtung ich mich wenden musste ? Und warum tat ich eigentlich nicht das einzig Vernünftige und suchte nach einem Lichtschalter, ehe ich die Treppe hinaufging? Wie konnte ich so sicher sein, dass es weder im Erdgeschoss noch im Treppenhaus elektrisches Licht gab ?
Aber ich war mir sicher.
Ein beklemmendes Gefühl ergriff Besitz von mir. Es war, wie es auch unten im Keller gewesen war: ein De-ja-vu – aber eines von an Gewissheit grenzender Stärke.
Es war nicht das erste Mal, dass ich meine Füße auf diese Stufen setzte. Ich versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, ja sogar mich fast verzweifelt auf die sich langsam bis zum Nacken hinunterziehenden Kopfschmerzen zu konzentrieren, aber es gelang mir nicht, obgleich der Schmerz mittlerweile so heftig war, dass mir ganz schwindelig wurde. Mein Herz begann zu rasen, während ich mich langsam und mit zitternden Knien der ersten Etage näherte. Ich spürte, dass sich eine ganze Menge winziger, kalter Schweißperlchen auf meiner Stirn und hinter meinen Ohren sammelten, zu mehreren größeren vereinten und über meinen Hals in den Hemdkragen hinabrannen. Ich war nicht zum ersten Mal hier.
Was hatte ich überhaupt hier verloren? Ich sollte nach einem Ausgang suchen – glaubte ich etwa, dort oben eine Feuerleiter zu finden, die vom Fenster auf der Außenseite hinabführte und bis in den Graben vor dieser Festung reichte? Eine Hängebrücke, wie von einem gewaltigen Abenteuerspielplatz, oder eine Liane, an der ich mich bis ins Crailsfeldener Zentrum, am besten gleich bis zum nächsten Flughafen schwingen konnte?
Mein Schädel brummte mittlerweile nicht mehr, er donnerte regelrecht. Das Herz schlug fast schmerzhaft in meiner Brust, und ich hatte das Gefühl, als würde mir ein Strick um den Hals gelegt, der sich mit jedem Schritt weiter zuzog, meine heftig pulsierenden Adern abklemmte, meine Kehle zuschnürte und mir das Atmen immer mehr erschwerte. Verdammt, was geschah nur mit mir?
Wenn ich auch nicht wusste, warum und woher: Ich kannte jede einzelne Stufe dieser steilen Treppe. Trotzdem kramte ich das Feuerzeug, das Judith mir im Laufe des Abends für Notfälle überlassen hatte, aus der Tasche hervor, nachdem ich sie zu zwei Dritteln hinter mir zurückgelassen hatte. Ich redete mir ein, es zu tun, weil ich das spärliche, flackernde Licht, das sogleich einen geisterhaften Tanz auf den Wänden zu meinen Seiten und an der Decke vollführte und das enge Treppenhaus noch unheimlicher erscheinen ließ, zum Sehen brauchte. In Wirklichkeit strebte ich nur nach dem beruhigenden, ganz normalen Gefühl, Licht zu brauchen, um mich zurechtzufinden. Ich redete mir ein, dass es funktionierte.
Als ich das obere Ende der Treppe erreicht hatte, blieb ich einen Augenblick lang stehen und lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein. Ich wusste, dass ich allein hier war. Wahrscheinlich war ich in meinem ganzen Leben noch nie so allein gewesen. Plötzlich wäre mir ein wenig Gesellschaft sehr heb gewesen – meinetwegen sogar in Form von Ellen oder sogar von Eduard. Ich fühlte mich einsam und im Stich gelassen, wie ein kleines Kind, das nachts durch sein Elternhaus tappt und feststellt, dass Mutter und Vater heimlich ausgegangen sind und dass die sonst so vertraute Umgebung, in der es sich eigentlich mit so schlafwandlerischer Sicherheit zurechtfindet, plötzlich etwas ungemein Unheimliches und Bedrohliches hat. Einen kurzen Moment lang überlegte ich, umzukehren und mich wieder Judith und Carl anzuschließen, deren Stimmen nun, da ich lauschte, durch die dicken Mauern auf ein Murmeln gedämpft zu mir drangen, betrat schließlich aber doch die hölzernen Dielen der ersten Etage. Es war, als hätten meine Beine einen eigenen Willen, zumindest aber eine gewisse Mechanik entwickelt und trügen mich ganz allein und ohne mein Zutun über den zu beiden Seiten mit dunklem Holz vertäfelten Flur. Ich wehrte mich nicht dagegen. Ich spürte, dass es ... dass es richtig war.
Meine Füße trugen mich zielstrebig zu der letzten von drei Türen, die auf den Korridor
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