Nemesis 02 - Geisterstunde
befremdlich. Nacheinander betrachtete ich die Gesichter der Kinder. Es waren insgesamt zwölf. Sie alle mussten mindestens dreizehn, keines aber älter als sechzehn Jahre sein. Die Jungen trugen ihr Haar kurz geschnitten, die Mädchen ihre ausschließlich blonden Mähnen zu ordentlichen Zöpfen geflochten. Ihre Uniformen bestanden aus Khakihemden und dunklen Hosen beziehungsweise Faltenröcken. Die Ärmel der älteren Jungen und Mädchen waren mit Achselschnüren geschmückt, außerdem trugen alle einen Aufnäher auf dem linken Arm. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte angestrengt, die einheitliche Applikation darauf zu erkennen, schaffte es aber nicht, sondern bemerkte stattdessen etwas anderes: Das Gesicht eines der Knaben erschien mir vertraut. Einen Moment lang überlegte ich, wo ich es schon einmal gesehen hatte.
Als es mir schließlich einfiel, bildete sich spontan ein Kloß in meinem Hals.
Es war gar nicht so lange her, dass ich diese Züge zum letzten Mal gesehen hatte. Es war gestern Morgen gewesen, als ich zum letzten Mal in einen Spiegel geschaut hatte.
Nein. Das war nicht ich, der da inmitten eines Dutzends Pfadfinder stand und voller Stolz in das Objektiv einer Kamera lächelte. Aber er sah mir verdammt ähnlich. Der eisige Schauer, der mich in dieser Nacht schon so oft heimgesucht hatte, drehte eine weitere Ehrenrunde über meinen Rücken und schlüpfte von dort aus in meine Boxershorts.
Maria zog eines der vor dem Internat aufgenommenen Gruppenbilder zu sich heran. Es war das mit den mysteriösen Filzstiftkringeln.
»Hier auch«, sagte sie. »Alle eingekreisten Köpfe gehören zu blonden Kindern. Bis auf dieses Mädchen.«
Sie deutete auf Miriam.
»Vierzehn von dreißig Kindern auf diesem Foto sind blond«, versuchte ich schnell von dem Mädchen aus meinem Traum abzulenken, ehe ich noch etwas Unbedachtes sagen und Ellen zu dem Entschluss verführen konnte, mir bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit einen mit einer Überdosis Valium angereicherten Tee unterzujubeln.
»Der Typ sieht dem auf dem Pfadfinderbild ganz schön ähnlich.« Judith deutete auf den Lehrer, dessen Kopf ebenfalls mit schwarzem Filzstift eingekreist war und der inmitten der hintersten Schülerreihe stand. Sie nahm das Foto in die Hand und warf einen Blick auf die Rückseite.
»Und hier ist auch ein vernünftiger Stempel drauf. Fotolabor C. Taube, Crailsfelden, 1977.«
Maria betrachtete alle Fotos noch einmal und noch aufmerksamer als zuvor. »Er ist auf gut der Hälfte der Bilder zu sehen«, stellte sie schließlich fest und deutete nacheinander auf einige. »Hier«, sagte sie und zeigte auf einen der Männer im Laborkittel. Es musste das älteste der Bilder sein, denn dort war seine Haut noch frisch und straff und sein Haar noch dicht und blond. Außerdem war es eines der Schwarzweißfotos. »Außerdem ist er der Pfadfinderleiter, seht ihr? Da sind noch mehr Klassenfotos mit ihm, aufgenommen in Abständen von mehreren Jahren. Und außerdem hier.« Sie zog die Stirn kraus, wie um sich noch einmal zu vergewissern, dass sie tatsächlich richtig sah, und nickte schließlich heftig. »Da auf dem Empfang. Er redet mit jemandem, der ...«
»... der aussieht wie unser lieber Freund, der draußen in dem Erdloch vor sich hin schmort«, beendete Ed ihren angefangenen Satz. »Aber der hat ja auch nichts mit der ganzen Geschichte zu tun. Unser Samariter hilft ja nur selbstlos in einer Kanzlei aus, für die er seit Jahren nicht mehr arbeitet«, fügte er in ironischem Tonfall hinzu.
»Jedenfalls glaube ich nicht, dass so viele blonde Kinder Zufall sind. Schon gar nicht im Zusammenhang mit dem Lebensborn«, warf Maria schulterzuckend ein. »Sie machen gut die Hälfte von allen aus. Das entspricht keineswegs dem Durchschnitt der Bevölkerung.«
»Abgesehen von Frau Professor Doktor Ellen und dem Loser da drüben sind wir alle blond«, bemerkte Ed und deutete mit einer verächtlichen Geste auf Carl. »Aber die meisten würden für Angehörige der überlegenen Herrenrasse trotzdem ziemlich blöd dastehen.«
»Ellen ist auch blond«, behauptete Judith. Ein kleines Gewinnerlächeln schlich sich in ihre Züge. Offenbar genoss sie es, die sonst so perfekte, unantastbare Ellen mit ihrer falschen Haarfarbe bloßzustellen. »Das Rot ist nicht echt. Man sieht es am Ansatz.«
»Habt ihr eigentlich sonst keine Sorgen oder ist euch einfach nur langweilig«, zickte Ellen zurück, rammte ihre Kippe in den Aschenbecher und blies Judith
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