Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
Moment in diesem gottverlassenen Kuhkaff zurücklassen wollte, sobald ich jemals wieder von hier wegkäme. Judith passte einfach zu mir. Die Chemie stimmte, das war entscheidend. Sie war die Antwort auf so viele verpatzte Rendezvous und auf das kurzfristige zwischenmenschliche Desaster mit dem Mädchen namens Isabelle, das schließlich mit einem angehenden Rechtsanwalt über alle Berge verschwunden war. »Ich werde dich beschützen«, versprach ich. »Wir werden gemeinsam von hier fortgehen.«
Judith wandte den Blick ab. Entweder brachte ich sie in Verlegenheit, oder sie glaubte mir nicht. Hatte ich Ellen unbewusst des Öfteren so angesehen, wie ich Frauen wie sie in freier Wildbahn für gewöhnlich anzusehen pflegte?
Spürte Judith, dass sie eigentlich nicht das Idealbild verkörperte, das ich von einer Frau, die ich lieben konnte, hatte, oder wusste sie einfach, dass sie ein bisschen zu dick war und hielt sich deshalb nicht für begehrenswert, auch wenn ich ihr das weiszumachen versuchte?
»Versprechen wir uns nichts für Morgen«, sagte sie leise. »Es zählt jetzt nur der Augenblick. Wir müssen ...«
Sie hob hilflos die Schultern und begann leise zu schluchzen. Dann schlang sie mir plötzlich die Arme um den Hals und küsste mich mit einer Leidenschaft, als sei es die letzte Gelegenheit, die sie in ihrem Leben dazu bekommen würde, oder als hinge ihr Leben gar an diesem einen Kuss. Auf einmal schien ihre Erschöpfung vollkommen verflogen, die schmerzhafte Wunde an ihrem Arm einfach vergessen. Hastig und ungeschickt wie Teenager in ihrer ersten Liebesnacht begannen wie einander die Kleider vom Leib zu zerren und versanken in einer schier endlosen Umarmung. Tastende Hände erkundeten weiche Haut, wir brauchten keine Worte, sondern kommunizierten einzig über unsere Körper, unsere Küsse, unseren Atem. Was wir einander mitzuteilen hatten, zielte ausschließlich auf Erregung, Zufriedenheit, das Geben und Nehmen von Wärme und einem Gefühl von Geborgenheit ab, löschte jeden Gedanken an das, was geschehen war und geschehen könnte, einfach aus und katapultierte uns in einen bunten Strudel der unterschiedlichsten, allesamt aber durch und durch guten Empfindungen, in einen plötzlichen, euphorischen Liebestaumel.
Es war der Klang meiner eigenen Stimme, der von den gefliesten Wänden des engen Raumes widerhallte und mich aus meinem vollkommenen Rausch in die Wirklichkeit zurückholte, das letzte Echo eines unartikulierten Schreis, das Aufbegehren des Lebens, dem die peinliche Erkenntnis folgte, dass auch die anderen am Ende des Flurs uns (mich!) gehört haben mussten. Schwankend vor Erschöpfung hob ich Judith vom Waschbecken und hielt sie fest umklammert, während ein elektrisierendes Nachbeben meinen gesamten Körper von den Lenden aus durchfuhr. Ich schloss die Augen und hoffte, sie noch einmal zurückholen zu können, diese hemmungslose Euphorie, dieses absolute Gefühl von Freiheit. Augenblick um Augenblick wollte ich der Wirklichkeit stehlen, jenem Schicksal, das irgendwo in der Finsternis außerhalb des alten Duschraums lauerte. Die Scham, die die Erkenntnis in mir wachgerüttelt hatte, ließ sich nicht vollständig verdrängen, kam aber nicht gegen die Erregung an, die mich erfasst hatte. Wieder tasteten meine Hände über ihre warme, weiche Haut, vorsichtiger dieses Mal, mit einem Respekt, wie dem, mit dem ich einem unendlich zerbrechlichen Schatz begegnet wäre, einem empfindsamen Wesen, das ich berühren wollte, das ich streicheln wollte, dem ich etwas Gutes tun wollte, ohne ihm dabei mit einer unbedachten, vielleicht zu ruppigen Geste zu schaden, es zu erschrecken oder gar zu verletzen. Zärtlich liebkoste ich ihre prallen Brüste, streichelnd tasteten meine Fingerspitzen an ihrem Körper hinab, glitten über eine harte Narbe an ihrem Bauch, wo sie einen Moment verharrten. Ich würde Judith nach ihrem Ursprung fragen, wenn das alles hier vorbei war, wollte wissen, was meinem Mädchen, meinem wunderhübschen, kleinen Pummelchen widerfahren war, dass es eine solche Wunde davongetragen hatte, wer dafür die Verantwortung trug, wen ich dafür zur Rechenschaft ziehen konnte. Langsam, in streichelnden Bewegungen, tastete ich mich weiter hinab um zärtlich das zu erkunden, was einst der Dichter Francois Villon in seiner schönsten Ballade den Erdbeermund getauft hatte.
Ich wünschte, ich hätte mir die leidenschaftlichen Verse der Ballade für Yssabeau gemerkt, um sie Judith nun leise ins Ohr raunen zu
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