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Nemesis 04 - In dunkelster Nacht

Nemesis 04 - In dunkelster Nacht

Titel: Nemesis 04 - In dunkelster Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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aber auf ein weißes Handtuch, welches sie auf dem Schreibtisch unter dem Giebelfenster ausgebreitet hatte.
    Darauf lagen ein paar blütenweiße Tupfer, Mullbinden, und eine unangenehm gebogene Schere, die das Schlimmste befürchten ließ, sowie eine krumme Stahlnadel und eine Spindel, auf der ein blauer Plastikfaden aufgerollt war, kurz: All die Dinge, die mich in den vergangenen drei bis vier Jahren erfolgreich davon abgehalten hatten, einen beliebigen Arzt aufzusuchen, ganz egal, wie schwer mich die Sommergrippe erwischt oder die poröse Füllung in meinem Weisheitszahn mich gequält hatte. Ich war ein wenig erstaunt darüber, was ein handelsüblicher Erste-Hilfe-Kasten so alles hergab, und über die Kreativität, mit der Ellen es geschafft hatte, aus seinen Beständen und ein paar anderen einfachen Gegenständen einen fast vollständigen OP zu improvisieren.
    Was mir aber deutlich fehlte, waren ein wirkungsvolles Betäubungsmittel und eine sterile Spritze, mit der sie es Judith in die Venen jagen konnte.
    »Muss ich mir Sorgen machen, dass du kollabierst?«, fragte Ellen kühl, und um ein Haar hätte ich den Kopf geschüttelt, hätte ich nicht noch rechtzeitig realisiert, dass sie ihre Frage nicht an mich, sondern selbstverständlich an Judith gerichtet hatte.
    »Was?«, fragte Judith verständnislos.
    Ellen verdrehte genervt die Augen. »Kippst du um, wenn du dein eigenes Blut siehst?«, fragte sie gereizt.
    »Dann hätte ich mich vorhin in der Küche wohl kaum auf den Beinen gehalten, als es zum ersten Mal hell genug war, um zu sehen, was mit meinem Arm los ist«, antwortete Judith scheinbar gelassen, aber ich glaubte trotzdem zu erkennen, wie ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde unsicher auf der blitzenden, stählernen Nadel verharrte. Ihrem Argument ließ sich nichts entgegenbringen, ich war sicher, dass sie die Wahrheit sagte.
    Aber die Fähigkeit, ihr eigenes Blut sehen zu können, war in diesem Moment wahrscheinlich nicht das, worüber sie sich Gedanken machte.
    »Tja ...«, sagte Ellen gedehnt. Wollte sie Judith quälen, oder hielt sie es tatsächlich für sinnvoll, ihre Angst vor dem, was kommen könnte, möglichst ins Unermessliche zu steigern, damit sie bei jeder Bewegung der Ärztin gleich immer auf etwas noch Schlimmeres gefasst war und sich vielleicht hinterher erleichtert fühlte, weil die kleine Operation ihre schlimmsten Befürchtungen doch nicht erreicht hatte? »Es ist schon erstaunlich, wie stark so eine kleine Schnittwunde bluten kann«, erklärte Ellen.
    »Man sieht aus, als käme man aus dem Schlachthaus. Ich arbeite schon seit mehr als sieben Jahren im OP, aber wie blutig dieses Handwerk ist, überrascht mich immer wieder aufs Neue.«
    »Was willst du damit sagen?«, brauste Judith auf.
    »Warum?« Ellen tat überrascht. »Was glaubst du denn, was ich sagen wollte?«
    Sie wollte Judith quälen. Ich erhaschte ein winziges, eher befriedigtes als zufriedenes Aufblitzen in ihren eisblauen Augen. Was zum Teufel sollte das? Wir hatten verdammt noch mal schon genug andere Sorgen und mussten uns nicht gegenseitig noch psychisch schikanieren. Gut, ich hatte mich vorhin in der Küche Carl gegenüber auch nicht anders verhalten, aber das war etwas anderes gewesen, ich hatte darauf abgezielt –
    Halt, schoss es mir durch den Kopf. Vielleicht war das, was die Rothaarige nun mit Judith veranstaltete, was sie so reden ließ und was sie womöglich gleich mit ihrem Arm anstellen würde, wirklich nichts anderes als das, was ich mit dem Wirt gemacht hatte. Möglicherweise war es nicht ausschließlich sadistische Lust, die sie ihre Rolle, die es ihr gestattete, Judith ein bisschen zu foltern, ausnutzen ließ, sondern sie verdächtigte Judith ebenso, wie ich vorhin (und eigentlich auch jetzt noch ein bisschen) Carl im Visier gehabt hatte.
    »Ich kann bezeugen, dass Judith unter einem der Träger eingeklemmt war«, schoss ich ins Blaue. »Sie wäre gar nicht in der Lage gewesen, in die Küche hinaufzulaufen.«
    »Habe ich das behauptet?«, entgegnete Ellen schnippisch, aber das leichte Zucken, das wieder durch ihre Gesichtsmuskeln fuhr, verriet mir, dass ich ganz genau ins Schwarze getroffen hatte. »Ich habe lediglich gesagt, dass es immer wieder verwunderlich ist, wie stark eine kleine Wunde bluten kann.«
    »Besonders, wenn sie einem an der Kehle zugefügt wird«, fügte Carl düster hinzu.
    Judith signalisierte mir mit einem mahnenden Blick, die Ruhe zu bewahren. Sie hatte verstanden, was mir bereits

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