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Nemesis 04 - In dunkelster Nacht

Nemesis 04 - In dunkelster Nacht

Titel: Nemesis 04 - In dunkelster Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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gesehen, ehe ich in die Staaten ausgewandert war: Das Titelbild stellte eine Spritze dar, die bedeutungsvoll in eine handgeschriebene Namensliste gerammt worden war: Scharsachs Die Ärzte der Nazis.
    »Merkwürdige Auswahl«, murmelte der Wirt und kramte den Scharsach-Band sowie eine ganze Reihe weiterer Bücher hervor.
    Ich wunderte mich, wie zutreffend mein Vergleich ihres Koffers mit einem Schrank gewesen war. Zumindest beinhaltete er ein halbes Bücherregal, was meine Verhältnisse betraf, sogar mehr als ein ganzes. Neben Ernst Klees Deutsche Medizin im Dritten Reich, Karrieren vor und nach 1945 fand sich ein weiterer Band dieses Autors mit dem Titel Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer sowie Der Lebensborn e. V. von Georg Lilienthal und mehr als nur eine Hand voll weiterer, mehr oder weniger umfangreicher Sachbücher und Bildbände. Aus allen Büchern ragten seitlich gelbe, pinkfarbene und neon-grüne Klebezettel, die mit Notizen in fast mikroskopisch kleiner, unglaublich sauberer Handschrift versehen waren, die alle aneinander gereiht wahrscheinlich für sich genommen schon einen kompletten Roman abgeben würden.
    Endlich überwand auch ich meine Scheu und bückte mich nach einem der Bücher.
    Marc Hillel, Lebensborn e. V, verkündete mir das Cover, auf dem ein Mädchenkopf prangte, unter dem ein Schild angebracht war, als sei es als Verbrecherfoto aufgenommen und zu Fahndungszwecken veröffentlicht worden. Ich schlug die Lektüre willkürlich an einer der mit einem grünen Spickzettel markierten Stellen auf.
    Dort war es mit dem Bild von einem Dutzend Kleinkindern illustriert, die auf einer karierten Decke saßen.
    Kinder ohne Eltern, die in einem Lebensbornheim gefunden worden waren, wie mir die Bildlegende verriet.
    Ich blätterte weiter, überflog den Text und erfuhr in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Ekel von Kindern, die aus Polen und Jugoslawien ins Deutsche Reich verschleppt worden waren, weil sie »arischen Typs« gewesen waren, von einem KZ-Häftling, der berichtete, wie er zu einem Einsatz eingeteilt wurde, bei dem es darum ging, mitten im Winter über hundert Säuglinge aus einem Eisenbahnwaggon zu laden. Sie sollten in das Musterheim Steinhöring nach Bayern geschafft werden, wo es allerdings nicht genügend Personal gab, um der Kinderflut aus allen Teilen des zusammenbrechenden Reiches Herr zu werden, sodass die Amerikaner kaum eine Pflegeschwester dort vorfanden, als sie schließlich das Heim besetzten. Ich stieß auf Fotos, auf denen Dutzende von Säuglingen dicht an dicht lagen, mit schmutzigen Windeln und fiebrig tränenden Augen, weinend, schreiend, auf makabere Weise an eine Art Hühnerfarm erinnernd.
    Menschenzucht, schoss es mir durch den Kopf, während mein Magen wieder zu rebellieren begann, um auch noch den letzten Rest Galle und Magensäure durch meine Speiseröhre ins Freie zu katapultieren. Da waren Menschen gezüchtet worden, um Himmels Willen! Wie schlecht war diese Welt, in der ich lebte, wie tief die Abgründe, die sich in der Geschichte dieses Landes auf taten? Wie jeder andere hatte ich viel von den Verbrechen des Dritten Reiches gehört, im Abitur ganze Klausuren darüber geschrieben, die aber mehr die Fähigkeit prüften, sich ellenlange Zahlenkolonnen, Daten und Städtenamen einzuprägen, sodass ich zwar einiges am Rande mit Schrecken registriert hatte, mir aber nichts davon wirklich nahe gegangen war – vielleicht schon deshalb, weil mein Geschichtsprofessor damals genügend Rücksicht auf den erholsamen, ruhigen Schlaf seiner Schützlinge genommen und meine Leidensgenossen und mich mit Bildern wie denen, die ich in diesem Moment sah, verschont hatte. Über das Grauen, das diese Bücher vor mir zu vermitteln suchten, von Menschenzucht nach rassistischen Prinzipien, war nie ein einziges Sterbenswörtchen gefallen.
    Fast gewaltsam musste ich meinen Blick von dem Buch in meinen Händen lösen, ich verhielt mich dabei wie bei dem berüchtigten Autounfall-Effekt: Das Bild, das sich dem Gaffer bot, war grausam, abstoßend, einfach widerlich, und dennoch musste man hinsehen, vielleicht instinktiv aus der Erfahrung heraus, dass das, was das Auge letztlich auf die Reise Richtung Hirn schickt, den Schrecken dessen, was die Fantasie sich ausmalt, wenn man nicht richtig hingesehen hatte, zumeist nicht erreichte. In diesem Fall war dieser Instinkt aber, auf gut Deutsch gesagt, schlichtweg für den Arsch. So weit hätte meine Vorstellungskraft nicht gereicht.
    Auch Ellen

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