Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
den Koffer anschauen, und dann Maria suchen, die vielleicht gerade in diesem Augenblick von unserem geheimnisvollen Mörder gejagt wird. Aber ein Koffer ist natürlich wichtiger.«
Ganz ruhig, ermahnte ich mich stumm, als ich erneut Lust verspürte, dem dicken Hippie die Schneidezähne kraft meiner Rechten bis in den Rachen zu befördern, damit er endlich davon abließ, Streit zu provozieren und Zwietracht zu säen, wo auch immer sich gerade eine Gelegenheit dazu bot. Ich durfte mich nicht aufregen, denn spätestens seit meiner Attacke auf den Wirt vor wenigen Minuten konnte ich mir lebhaft vorstellen, ihn im Affekt umzubringen. Irgendetwas in diesen düsteren Gemäuern, diese verfluchte, eisige Atmosphäre hier, hatte eine Mordlust in mir geweckt, die mir bis zu diesem Zeitpunkt fremd gewesen war. Natürlich hatte ich auch früher gelegentlich darüber nachgedacht, dass das Leben durchaus schöner sein konnte, wenn bestimmte Leute nicht mehr existierten – die faltige alte Dame von nebenan zum Beispiel, die es sich nicht nehmen ließ, für jede Lappalie die Polizei vor meiner Tür anrücken zu lassen, sei es, weil die Musik zu laut war, oder ich den Frevel begangen hatte, nach zweiundzwanzig Uhr mit Schuhen über die Holzdielen meiner Einzimmerwohnung zu laufen. Oder aber auch meine Freunde von der Müllabfuhr, die den Block, in dem ich wohnte, aus irgendeinem Grunde gefressen hatten und prinzipiell genau unseren Container mit Missachtung straften, sodass ich allmorgendlich an einer übel riechenden, ganz und gar unschönen Halde vorüber musste und die halbe Straße mittlerweile einer verwilderten Deponie glich. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass jeder von Zeit zu Zeit solchen nicht ganz ernst gemeinten Gedanken frönte, und es hatte nie ein Grund bestanden, mir ernsthaft Sorgen um die Standhaftigkeit meiner moralischen Werte zu machen. Nun aber war das anders. Ich konnte mir in allen blutigen Details vorstellen, wie ich dem Wirt eines der Messer in den schwabbeligen Bauch rammte, es genüsslich drehte und zufrieden seinen schrillen Schreien lauschte, während mir seine Eingeweide vor die Füße ...
Nein! Jetzt ging das schon wieder los! Ich musste mich vor diesen Gedanken hüten, denn sie waren der erste Schritt auf dem verhängnisvollen Weg, Carl wirklich etwas zuleide zu tun.
Ich verließ das Zimmer und hoffte, dass man mir nicht allzu deutlich ansehen konnte, was mich bewegte; schließlich floh ich in diesem Augenblick regelrecht vor mir selbst. Ich wollte mir schleunigst etwas suchen, was mich von den krankhaften Kapriolen meiner Gedanken ablenkte, und konzentrierte mich daher auf das flackernde gelbe Licht der einsamen Glühbirne unter der Decke, die unstete Schatten über den Boden und die Wände huschen ließ, während ich eiligen Schrittes Marias Zimmer ansteuerte. Als ich mein Ziel fast erreicht hatte, verharrte ich plötzlich mitten im Schritt und blinzelte irritiert. Die Tür zu Marias Zimmer stand einen Spalt breit offen. Angestrengt versuchte ich mich daran zu erinnern, ob sie geschlossen gewesen war, als Judith und ich aus dem Duschraum zurückgekehrt waren, hätte es aber nicht beschwören können. Hundertprozentig sicher, dass sie nicht offen stand, war ich mir lediglich zu dem Zeitpunkt, als ich in Schweiß gebadet aus meinem ersten Albtraum erwacht und in die Küche, zu den anderen hinunter gegangen war.
Mein Blick wanderte prüfend den Flur hinab. Alle anderen Türen waren nach wie vor verschlossen. Einen Augenblick lang war ich unsicher, ob ich eine entsprechende Bemerkung machen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Wenn noch jemand in Marias Zimmer war, dann taten wir vielleicht gut daran, den Überraschungseffekt auf unserer Seite zu haben. Auf leisen Sohlen schlich ich mich an die Tür heran, versuchte vergeblich, durch den schmalen Spalt einen Blick in den dahinter liegenden Raum zu erhaschen und lauschte angestrengt.
Wenigstens hielten die anderen in diesen Sekunden mal die Klappe, dachte ich erleichtert bei mir, aber weil man manchmal nicht erst vom Teufel sprechen musste, sondern es schon reichte, einfach nur an ihn zu denken, damit er einem über den Weg lief, ergriff ausgerechnet Judith in diesem Augenblick das Wort.
»Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte sie irritiert.
Es war wirklich zum Aus-der-Haut-Fahren! Es schien, als hätten wir alle es bewusst darauf abgesehen, einander nach Kräften im Weg zu stehen und mit Wonne auf den Füßen herumzutrampeln. Wenn
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