Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
Wirt ihr gegenübertrat, für ihre plötzliche Übellaunigkeit verantwortlich, sondern zusätzlich der Schmerz, der auch ihr zu schaffen machte.
Vielleicht sogar plagten auch sie die verrückten Gedanken, denen sie verzweifelt nachzugehen versuchte, während sie wie ich gegen Schwindel und Übelkeit ankämpfte. Wenn sie sich aber ebenso miserabel fühlte wie ich, dann bewunderte ich ein weiteres Mal ihre Tapferkeit, schließlich wäre ich in diesen Momenten noch immer nicht in der Lage gewesen, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen.
»Ich meine auch die Tasche im Futter des Koffers«, gab Carl zurück. »Hast du den Reißverschluss übersehen?
Vielleicht hat sie da ja ihr geheimes Notizbuch versteckt – die Memoiren einer altjüngferlichen Bibliothekarin auf der Suche nach bösen Nazi-Verbrechern. Das Dokument, das alles ans Licht bringt!«
»Du bist ja so witzig!«, stöhnte Judith entnervt, öffnete aber wahrscheinlich um des lieben Friedens willen trotzdem den Reißverschluss auf der Innenseite des fast tischplattengroßen Kofferdeckels und tastete sich mit den Fingerspitzen durch das Fach. Dann nahm ihr Gesicht einen überraschten Ausdruck an. Stirnrunzelnd zog sie ein rotbraunes, ledernes Dokumentmäppchen aus dem Koffer hervor. »Führerschein ... Bibliotheksausweis ...«, dokumentierte sie, während sie sich durch die kleinen Klarsichthüllen im Inneren der Mappe blätterte. Dann stockte sie plötzlich, überflog eines der Papiere, las es sorgfältig noch einmal und hielt mir schließlich stumm das aufgeklappte Mäppchen hin.
Mein Blick war noch immer getrübt vom Schmerz und verschleiert vom Schwindel. Dennoch konnte ich unter großen Mühen erkennen, was auf dem grellorangefarbenen Dokument in einer Plastikhülle geschrieben stand: Es war ein Presseausweis, der Marias Daten und ein kleines Lichtbild trug, auf dem sie abgebildet war – auf dem allerdings nichts, aber auch rein gar nichts mehr an das unschuldige graue Mäuschen erinnerte, als das wir sie kennen gelernt hatten. Sie trug ihr sonst zu einer Unfrisur verunstaltetes blondes Haar sorgfältig zu einem modischen Look gestylt und trug eine knallrote, hauteng geschnittene Bluse, die noch dazu meiner Meinung nach um genau einen Knopf zu weit geöffnet war, um noch einen dezenten Reiz auszustrahlen.
»Journalistin«, flüsterte ich. Ich war wie vom Donner gerührt, der sich elegant zwischen die Blitze, die durch meinen Schädel zuckten, eingliederte. Immerhin hatte ich ein paar Milliliter Speichel hinter meinen Backenzähnen gefunden, die mir zumindest mühsam das Sprechen ermöglichten. »Von wegen Bibliothekarin.«
»Das ist es nicht.« Judith schüttelte den Kopf und tippte mit dem Zeigefinger auf die andere, heruntergeklappte Seite des Dokumentmäppchens, worin ein weiteres Dokument mit Lichtbild steckte. »Das ist ein Waffenschein!«
Ein abwechselnd kalter und heißer Schauer lief mir über den Rücken, und ich fühlte mich endgültig, als hätte es mich in ein Gewitter aus Fragen und Rätseln verschlagen. Meine Gedanken und Gefühle überschlugen sich, tanzten einen schmerzhaften Pogo in meinem Kopf, warfen einander um und halfen sich dann beim Aufstehen, nur, um sich dann gleich wieder gegenseitig über den Haufen zu rennen. Maria hatte einen Waffenschein, war Journalistin, trug eine edelhurentaugliche Bluse ... ausgetauschte, kindliche Gliedmaßen, und das Mädchen war tot, vom Turm gesprungen, hatte sich einfach selbst getötet, wegen Sänger? Nein. Oder doch? Verdammt! Ich musste mich beruhigen und meine Gedanken ordnen!
Dieses wahnwitzige Chaos ergab einfach keinen Sinn!
Judith griff noch einmal in das Fach im Kofferfutter, warf ein Päckchen Tampons (ich hätte auf Damenbinden getippt, Maria war einfach nicht der Typ für Hightech-Hygiene) und eines mit Aspirin in den Koffer und beförderte schließlich eine platt gedrückte, graue Schachtel ans Licht des Raumes, das düster und unheimlich war und die Schatten in den Winkeln betonte.
»Pistolenmunition, Kaliber 38«, murmelte Carl tonlos.
Für einen Moment erschlafften seine Züge, dann spannte sich jeder verfettete Muskel seines Körpers. »Scheiße, scheiße, scheiße!«, fluchte er lauthals. »Diese Killerin hat eine Knarre und läuft jetzt irgendwo in der Burg herum.«
Oder jemand anderes hat die Pistole, dachte ich stumm und lobte mich für diesen rationalen Schluss. Der Koffer war zerwühlt gewesen, als wir den Raum betreten hatten, ganz so, als hätte jemand etwas
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