Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
Sänger in einem Anzug abgebildet war, neben dem ein kleiner Mann in SS-Uniform stand. Im Hintergrund des Fotos war deutlich der Burgfried von Crailsfelden zu erkennen. »Die Bildunterschrift zu dem Foto lautete: Der Reichsführer SS beglückwünscht Professor Sänger zur Eröffnung eines weiteren Müttergenesungsheimes«, kommentierte sie leise. »Maria hat hier eine ganze Reihe von Zeitungsartikeln gesammelt, die meisten davon aus den dreißiger und vierziger Jahren. Es geht um so ergreifende Sachen wie eine Julfeier auf der Burg, oder um die Verleihung des Mutterkreuzes. In einem geht es um die Eröffnung der Internatsschule nach dem Krieg, dann gibt es einen über den tragischen Selbstmord einer Schülerin, die sich vom Burgfried gestürzt hat. Ein paar Wochen später wird die Schule geschlossen. Das war 1986. Professor Sänger erklärt dazu in einem Interview, dass der schreckliche Unfall ihm seinen Seelenfrieden genommen hätte und er nicht mehr die Kraft hätte, die Schule weiterhin zu leiten.
Komisch, nicht wahr?«
»Wieso?« Der Wirt machte eine wegwerfende Handbewegung. »Daran kann ich mich noch erinnern. Der Professor war damals über siebzig. Das Ganze hat ihn ziemlich mitgenommen. Vielleicht hat er auch schon lange nach einer Möglichkeit zum Aufhören gesucht.«
»Das stinkt doch zum Himmel!«, lehnte die Ärztin entschieden ab. »Wer bis weit über das normale Pensionierungsalter hinaus den Elan aufbringt, eine Privatschule zu leiten, der hört doch nicht auf, weil ein Mädchen Selbstmord begeht. Schlimmstenfalls gibt er sein Amt an einen würdigen Nachfolger ab. Hinter diesem Selbstmord steckt mehr.«
»Miss Marple und Pater Brown wären sicher stolz auf dich«, seufzte Carl. »Aber ich kann deinen Argumente nicht so ganz folgen. Er war ein alter Knacker ...
Irgendwann ist dann eben Schluss.«
Mein Mund fühlte sich plötzlich an wie ausgetrocknet, und in meinem Hals spürte ich ein unangenehmes Kratzen und Drücken, ausgelöst durch den steinharten Klumpen, der sich innerhalb von Sekunden in meiner Kehle gebildet und bis auf Weiteres unerschütterlich dort festgesetzt hatte. Ich konnte nicht einmal versuchen, diesen schmerzhaften Kloß herunterzuschlucken, denn meine Zunge klebte wie mit Zwei-Komponenten-Kleber an meinem Gaumen fest. Selbst das Atmen fiel mir schwer.
Auf einmal war er wieder da, der Alien hinter meiner Stirn, und erneut begann er sich zu regen. Da war irgendetwas mit diesen Zeitungsartikeln, das es wieder wachgerüttelt hatte, das schmerzhafte Etwas in meinem Kopf, das ich seit meiner zweiten Ohnmacht im Keller nicht mehr verspürt und binnen kürzester Zeit aus meinem Bewusstsein verdrängt hatte. Hinter meiner Stirn begann es erneut zu pochen, Schwindel erregende Wogen des Schmerzes wallten unter der Schädeldecke entlang und erschwerten mir zunehmend das Denken. Dabei hatte ich doch das sichere Gefühl, dass es gerade jetzt unglaublich wichtig war, dass ich mich konzentrierte, dass ich über das nachdachte, was gesagt worden war, möglichst tief in mich hineinhorchte und versuchte, einen Zugang zu meinem Unterbewusstsein zu finden. Ich spürte, dass dort etwas Wichtiges verborgen sein musste, wo sich vielleicht der Schlüssel zu dem Geheimnis, das wir notgedrungen zu ergründen versuchten, versteckt hielt. Es war etwas mit dem Zeitungsartikel gewesen, den Ellen vorgelesen hatte, daran bestand kein Zweifel, denn in genau diesen Sekunden hatte es wieder begonnen. Der Selbstmord des Mädchens, die Schließung der Schule ...
Dahinter steckte etwas Entscheidendes, vielleicht etwas, von dem Leben oder Tod abhing. Doch der plötzliche Angriff meiner Kopfschmerzen, dieses schier endlos scheinende Martyrium, ließ mir keine Chance, das Rätsel zu entschlüsseln.
Mein verschleierter Blick wanderte Hilfe suchend zu Judith, doch auch sie massierte sich auf einmal die Schläfen, als erginge es ihr ähnlich wie mir. Verflucht, welches grausame Nervengift war hier am Werk?
»Ich finde, wir sollten uns lieber um Maria kümmern, als diesen Hirngespinsten nachzuhängen.« Carls Stimme drang wie aus weiter Ferne zu mir durch, dennoch hallte sie in einem Echo des Schmerzes hinter meiner Stirn nach. »Vielleicht würde Miss Sittenwächtern so gut sein und den Koffer durchsuchen?«, wandte er sich zynisch an Judith. »Ich darf ihn ja nicht anrühren.«
»Zwischen der Wäsche liegt nichts mehr«, knurrte Judith gereizt. Möglicherweise war nicht nur die ironische Art und Weise, mit der der
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