Neobooks - Entbehrlich: Thriller (German Edition)
dabei hin und wieder zurück, die Serviette in beiden Händen. Ihr Besteck gebrauchte sie auf europäische Weise. Wie ihr Vater hatte sie schöne, gepflegte Hände, mit kurz geschnittenen, schimmernden Fingernägeln. Wie ihr Vater und Hauser ignorierte sie ihn, als er lange vor ihr fertig war und ihr zusah, bis sie ihren Teller geleert hatte. Sie ließ tatsächlich keinen Rest.
Ross’ Gedanken wanderten. Andere junge Frauen in ihrem Alter trainierten und hungerten sich auf Modeldimensionen herunter, aber dieses Mädchen leckte praktisch ihren Teller ab. Ihre Kleidung kaschierte mehr oder weniger ihre Figur, und sie war nicht nur sportlich, sondern auch in Haltung und Bewegung elegant, aber es war unübersehbar, dass sie nicht gerade schlank war. Trug sie nur den Rest ihres Babyspecks mit sich herum, der von selbst wegschmelzen würde, oder war sie dabei, sich in eine groteske, fette Riesin zu verwandeln? Nein, entschied Ross, Frauen wie sie werden nicht fett. Für die Angehörigen ihrer Kaste gibt es kosmetische Chirurgie, Spa-Aufenthalte, persönliche Trainer, Therapeuten und Tabletten ohne Ende.
»Was trinken Sie, Walter?«
»Wie? Eh, Wein.«
»Wein?«
Er hob die Flasche aus dem Kühler und ließ sie das Etikett lesen.
»Chablis.« Sie hielt ihm ein leeres Glas entgegen. »Wie war Ihre Suppe?«
»Die Suppe?« Ross blickte in seinen leeren Teller. »Gut.«
»Sie machen sich nichts aus Essen, oder?«
»Doch, doch.«
»Alleine wegen des Essens möchte ich in Europa bleiben.«
»Kommen Sie nicht zurück?«
»Nein. Meine Schulzeit ist vorüber. Ich war wegen meiner vielen Wechsel eh länger in der Schule als die meisten anderen. Verschwendete Zeit.«
»Und? Was machen Sie jetzt?« Es war diese Erwachsenenfrage, die implizierte, dass man nach der Schule etwas Ernsthaftes vorhaben musste. Ross fügte schnell hinzu: »Fahren Sie nach Hause? Ich meine, nach Kolumbien?«
»Ach, Kolumbien.« Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Ich weiß nicht. Seit sie mich ins Internat gesteckt haben, war ich nie mehr länger als ein paar Wochen im Jahr dort. Natürlich, meine ganze Verwandtschaft ist da. Ich habe mindestens eine viertel Million Cousinen, aber mit denen ist nichts los. Die spielen den ganzen Tag mit ihren Telefonen, oder sie lassen sich aus geschlossenen Wohnvierteln in bewachte Malls fahren und shoppen, bis sie ohnmächtig werden. Die einzige Steigerung, die sie sich vorstellen können, ist, dasselbe in Miami zu tun. Wenn sie nicht shoppen, dann sind sie in einem Schönheitssalon oder beim Friseur und tratschen: Wer es mit wem treibt, wer seine Unschuld verloren oder wer mal wieder abgetrieben hat. Und Schönheits-OPs. Alle lassen sich die Nasen und die Möpse machen. Und heiraten, darauf sind sie ganz wild. Bis sich ein Dummer findet, der es mit ihnen aushält und ihnen ein paar Kinder macht, studieren sie irgendwas Anspruchsloses. Kommunikationswissenschaft oder so. Kennen Sie Kolumbien, Walter?«
Er schüttelte den Kopf.
»Da ist Krieg. Da will keiner hin. Alle wollen weg. Meine ganze Sippe würde sofort in die USA übersiedeln, wenn sie nur dürften. Staatsbürgerschaft ist auch ein großes Thema bei denen. Nur ich, meine Mutter und ihre anderen Kinder, mein Cousin Raoul und seine Familie haben die Staatsbürgerschaft. Die anderen sitzen fest. Immerhin hat sich mein Großvater in Costa Rica eingekauft, das ist auch ein sicheres und sauberes Land.«
Ross erinnerte sich, dass er etwas Ähnliches schon einmal von Lourdes gehört hatte. Nicht nur die Armen wollen in die USA, dachte er verwundert, auch die Reichen. Vielleicht gerade die Reichen. Das war ihm vorher noch nie aufgefallen.
»Eigentlich«, sagte das Mädchen in seine Gedanken, »gefällt mir Europa. Die Leute hier sind ziemlich entspannt. Man kann rauchen, und keiner fragt, ob man einundzwanzig ist, wenn man einen Drink bestellt. Es gibt diese coolen Städte, Barcelona, Amsterdam, Reykjavík. Alles funktioniert. Es gibt keine Armen, und fast überall kann man sich unbewaffnet und zu Fuß bewegen. Sogar nachts.«
»Dann bleiben Sie doch hier.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Was ist mit New York? Die Mitte der Welt.«
»In New York ist mein Vater.«
Was immer das hieß. Ross sagte: »Oder Kalifornien? Da sind alle so wie Sie.«
»So wie ich?«
Ach, shit. »Verstehen Sie mich nicht falsch.«
Wieder wurden sie von der Kellnerin unterbrochen. Als die Teller vor ihnen standen und die Gläser nachgefüllt waren, sagte das Mädchen: »Ich
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