Neobooks - Hinter verborgenen Pfaden: Der geheime Schlüssel I (German Edition)
waren.
Was war fürchterlicher? In Pal’dor eingeschlossen zu sein, oder aus Pal’dor ausgeschlossen zu sein? Es war, als hätte jemand einen Keil zwischen Ala’na und Rond’taro gestoßen. Zum ersten Mal seit beinahe tausend Jahren war sie wirklich von ihm getrennt. Ala’na drängte diesen Gedanken schnell beiseite. Rond’taro hatte sich gewappnet, und er war den Gnomen bereits einmal entkommen. Er kannte die Gefahr. Außerdem war Lilli’de bei ihnen. Sie würde ihre Lager unkenntlich machen, Mendu’nor war ein Kind der Berge, er würde Wege finden und beschreiten, die noch keiner vor ihm je gesehen hatte. Iri’te konnte sich um Verletzte kümmern wie sonst niemand, und Ala’nas tapferer Sohn Alrand’do war mit seinem Vater so vertraut, dass sie gegenseitig ihre Gedanken lesen konnten. Ala’na wünschte, sie könnte das auch, sie wünschte sie könnte alle zu noch mehr Vorsicht mahnen, und gleichzeitig wusste sie, dass es nicht nötig war. Als sie Pal’dor verließen, war allen klar, dass sie erst dann zurückkehren konnten, wenn der Zauberer entmachtet war.
Der Schlamm in Latar’ria schäumte so sehr, dass die Wellen grau und trüb ans Ufer schwappten. Dunkle Spuren blieben in den hellen Kieseln am Ufer zurück. Der Zauberer stand wieder vor dem Dämmerungstor, dem einzigen Eingang, von dem er glaubte zu wissen, wo er sich befand. Mit seinem Netz hatte er den gesamten Wald verseucht, mit seinem Zauber jetzt auch jedes Wasser. Ala’na hatte sich bereits einige Schritte vom See entfernt, als ihr ein paar fast vergessene Worte ihrer Großmutter wieder einfielen.
»Denk immer daran, mein Kind«, hatte sie gesagt, »das Wasser gehorcht keinem Herrn. Es sucht sich den leichtesten Weg und wäscht ihn sich aus. Es kommt überall herum und führt oft Dinge mit sich, die man nicht erwartet. Es ist ein Segen und es ist ein Fluch, und oftmals ist es das zur gleichen Zeit.«
Ala’na stand regungslos da, die Augen geschlossen. Hinter sich hörte sie leise die Wellen über den Kies rollen. Sie war die Herrin von Latar’ria – seit Jahrhunderten –, aber sie hatte diese Worte ihrer Großmutter nicht reichlich in ihrem Herzen bewegt. Es gehorcht keinem Herrn. Es gehorchte nicht ihr. Es gehorchte nicht dem Zauberer. Es folgte lediglich seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten und trug Dinge mit sich, die in es hineingelegt wurden. Natürlich war Latar’ria nicht irgendein Quell, der fröhlich seinen Weg suchte und zum Meer drängte, Latar’ria war ein Spiegel und hatte ihr in den letzten Tagen mehr Aufgaben gestellt als jemals zuvor. Ganz langsam drehte sich Ala’na um. Sie ging zurück zum See. Vorsichtig näherte sie sich dem Wasser. Sie machte ihren Kopf und ihre Seele frei von all ihren Ängsten, Gedanken und Gefühlen. Dann ließ sie ihre Seele in den See gleiten. Wie ein Vogel, der lange in einen Käfig gesperrt war, löste sich dieser Teil von ihr langsam und vorsichtig, schaute misstrauisch vom Käfigrand in die Freiheit und flog … Ala’nas Geist tauchte ein in die Fluten und ließ sich von ihnen tragen. Sie war nicht länger die Gebieterin des Sees, sie war ein Teil von ihm. Ein leiser Jubel durchzuckte sie, als sie Latar’rias Stimme vernahm. Sie war ihr fremd und vertraut zugleich, und während sie ihr lauschte, geriet sie immer tiefer in ihren Bann. Das Wasser saugte sie in die Tiefen und nahm sie mit sich. Ala’na wurde zu Wasser. Das Wasser wurde zu Ala’na. Es gab nichts mehr, was sie trennte.
Philip schlief in dem Bewusstsein ein, dass er auf all die kleinen Sprösslinge des Baumes achten musste, um ja keinen zu beschädigen. Völlig taub vom Liegen auf dem harten Boden wachte er auf. Der Mond schien fahl zwischen den Ästen hindurch. Vorsichtig drehte er sich auf die andere Seite, da sah er Leron’das auf der Decke sitzen und in die Ferne starren.
»Leron’das?«, flüsterte er. Die blonden Haare des Elben glitzerten im Mondschein, als er sich Philip zuwandte. In dem bleichen Gesicht sahen seine Augen aus wie tiefe Brunnen.
»Bedrückt dich etwas?«
Leron’das lächelte. »Ich hatte gerade einen sehr seltsamen Traum.«
»Willst du darüber reden?« Philip hatte das sichere Gefühl, dass es so war, denn sonst hätte Leron’das ihm bestimmt gleich gesagt, dass er weiterschlafen solle.
»Ala’na kam heute Nacht zu mir. Ich hatte den Eindruck, an ihren Gedanken teilzuhaben. Sie war so traurig, ratlos …« Sein unergründlicher Blick schweifte in die Ferne. Philip musterte ihn
Weitere Kostenlose Bücher