Neongrüne Angst (German Edition)
Lieblingsgedicht. Von Manfred Schlüter.«
»Haben Sie das auswendig gelernt?«
»Nein, das musste ich nicht. Ich hab’s gelesen und kriegte es nicht mehr aus dem Kopf. Manchmal ist das bei Gedichten so.«
Er sah auf den Boden. Ihm fiel ein Gedicht ein, das er früher unterm Tannenbaum aufgesagt hatte, um seiner Oma eine Freude zu machen, aber das konnte er jetzt unmöglich hier loslassen. Außerdem hatte er Angst, selbst das nicht mehr richtig zusammenzukriegen.
»Könnte ich Sie nicht stattdessen zu einem Kaffee einladen?«
Sie schüttelte die Locken. »Für mich ist der Kaffee hier heute sowieso umsonst.«
»Ja, dann wird da wohl nichts draus. Also, ich fürchte, ich kann kein Gedicht aufsagen.«
Sie triumphierte. »Mich für blöd halten, aber selbst kein Gedicht auswendig können …«
»Ich sagte doch schon, ich lese Kriminalromane.« Er versuchte einen Scherz: »Aber die kann ich natürlich auch nicht auswendig.«
17
Die Eisprinzessin und der Muskelmann warteten vergeblich auf Ken und Boris, und auch ihre Helfer ließen sich nicht auftreiben. Sie eröffneten die Kasse selbst. Kaum ertönte die laute Musik, da gingen auch schon die ersten Leute auf die Kasse zu, und es bildete sich eine Schlange.
Etwas abseits stand Johanna und rang mit sich. Dann sah sie ihre einzige Chance darin, die Menschen zu warnen.
Sie lief hin und rief: »Steigen Sie nicht ein! Um Himmels willen, steigen Sie nicht ein! Die Wagen sind nicht in Ordnung! Irgendjemand hat daran rummanipuliert! Es ist lebensgefährlich! Steigen Sie bloß nicht ein!«
Ein Ehepaar mit einem zehnjährigen Jungen scherte als Erstes aus. Die Frau sagte: »Nee, nee, nee, mir war das sowieso alles gleich suspekt. Warum soll man sich unnötig in Gefahr begeben? Komm, wir lassen das sein.«
Der Junge kreischte vor Wut: »Ihr habt mir aber versprochen, dass wir in den Looping gehen!«
Ein Mann, dessen rostbrauner Bart bis auf seine Brust hing, fragte Johanna: »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Weil ich … ich … ich weiß es eben! Glauben Sie mir! Es ist doch nicht so schlimm, mal auf so eine Fahrt zu verzichten. Sie riskieren Ihr Leben, wenn Sie da einsteigen.«
Dann war plötzlich der Muskelmann bei Johanna, hob sie hoch und trug sie einfach mit sich fort.
»Jetzt reicht’s, Kleine! Ich werde dir so was von den Arsch versohlen …«
Johanna strampelte und brüllte, kam aber nicht gegen ihn an.
Sie wurde gegen einen Wohnwagen gepresst. Der Muskelmann drückte sie mit links gegen die Wand und öffnete mit rechts die Tür. Er wollte sie in den Wagen schieben.
Sie trat gegen sein Schienbein, aber das amüsierte ihn nur.
Dann war da plötzlich ein Schrei, wie sie noch nie einen Schrei gehört hatte.
In einer der Gondeln lag ein Mann. Sein Oberkörper steckte in einem blauen Müllsack.
Die Eisprinzessin hielt das zunächst noch für einen Scherz und glaubte, ein Betrunkener habe sich dahin verirrt. Doch dann erkannte sie an der Körperform Ken, riss ihm den Müllsack vom Kopf, und was sie dann sah, würde sie sicherlich nie wieder in ihrem Leben vergessen.
Sie hörte sich selber kreischen und hielt sich vor Schreck über den grässlichen Ton die Ohren zu.
18
Dieter Hauser, der Chef der Achterbahn, war zu einem weinenden Fleischkloß geworden. Er saß auf einer Gittertreppe neben dem Kassenhäuschen, hatte ein teigiges Gesicht und stierte auf seine Füße.
Noch bevor die Polizei kam, wurde die zweite Leiche entdeckt.
Die achtzehnjährige Petra Winkel aus Bookholzberg war erst vor zwei Wochen nach Bremerhaven gezogen und hatte hier ihren ersten Vierhundert-Euro-Job. Sie sollte den Bratwurststand für den Verkauf herrichten und die ersten Würstchen auf den Grill legen. Für später war dann Verstärkung angekündigt. Der Chef selbst, bekannt für seine unnachahmliche Currysoße, wollte ihr heute zeigen, wie man eine perfekte Bratwurst grillt. Aber dazu kam es nicht mehr, denn in der Würstchenbude fand sie Boris. Die Füße steckten in einem Müllsack, der Kopf in der Friteuse.
Petra wurde ohnmächtig und lag gut eine Viertelstunde im Verkaufswagen, mit dem Kopf an den Füßen der Leiche.
Alle wollten Hauser daran hindern, sich das anzusehen, doch seine Körperkraft war plötzlich wieder da. Er stieß auch alte Freunde zur Seite. Er wollte seinen Sohn sehen. Aber dann war es doch zu viel für ihn.
Er jaulte wie ein angeschossener Wolf und schwor Rache. Er erklärte der Russenmafia lauthals den Krieg und brüllte über den Platz, so dass
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